Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
Vom Netzwerk:
eingeäschert.
    Er stieg an seiner Haltestelle aus und blieb kurz stehen, um zu überlegen, warum er ausgerechnet auf dieses Bild gekommen war. Nein – er war froh, Bensimon alles erzählt zu haben. Vielleicht war das im Grunde das Einzige, was die Psychoanalyse wirklich bewirken konnte: im Rahmen eines therapeutischen Dialogs über das Wesentliche, Elementare, Bedeutsame zu sprechen – das man sonst niemandem anvertrauen würde. Was hätte Bensimon ihm nunmehr mitzuteilen, was er sich nicht selbst erschließen konnte? Der Beichtakt war eine Art von Befreiung, und er fragte sich, ob er Bensimon überhaupt noch brauchte. Lysander hatte das Gefühl, sich sogar physisch von dem Mann zu unterscheiden, der die Ereignisse jenes Tages zu Papier gebracht hatte. Nun wurde ihm bewusst, wie wichtig es gewesen war, das niederzuschreiben. Etwas hatte sich verändert – es war so etwas wie eine Reinwaschung gewesen, eine Offenbarung, eine Lossprechung.
    Langsam, gedankenverloren ging er von der Haltestelle zur Pension und blieb unterwegs nur stehen, um hundert englische Virginia-Zigaretten bei der Tabaktrafik an der Ecke zu kaufen. Ob er wohl zu viel rauchte? Eine richtig lange Bergtour würde ihm guttun. Er widmete sich der angenehmen Frage, wie er sein Wochenende verbringen sollte.
    Traudl staubte gerade die von Glas umfangene Eule ab, als er die Tür öffnete. Ihm fiel auf, dass sie keinen Knicks machte und ihr Begrüßungslächeln ein wenig anzüglich war. Kein Wunder, dachte Lysander, da wir beide jetzt ein kleines Geheimnis teilen.
    »Der Leutnant möchte Sie gern sprechen, mein Herr«, sagte sie. Dann blickte sie sich um und wisperte: »Vergessen Sie das mit den zwanzig Kronen nicht.«
    »Sicher. Er wird ohnehin annehmen, dass wir … du weißt schon.«
    »Ja. Gut. Bitte sagen Sie ihm das unbedingt, mein Herr.«
    »Das werde ich, Traudl. Verlass dich drauf.«
    »Und ich habe Ihnen die Post ins Zimmer gelegt, mein Herr.«
    »Danke.«
    Lysander klopfte an Wolframs Tür und wurde prompt hereingebeten. Das breite Grinsen des Leutnants und die Flasche Champagner, die in einem Eiskübel bereitstand, signalisierten ihm auf Anhieb, dass die Verhandlung gut ausgegangen war. Wolfram trug wieder Zivil – einen karamellfarbenen Tweedanzug mit schokoladenbrauner Krawatte.
    »Freigesprochen!«, sagte Wolfram mit theatralisch erhobenen Armen, bevor sie einander herzlich die Hand reichten.
    »Gratuliere. Ich hoffe, es war keine allzu große Zumutung«, bemerkte Lysander.
    Geschäftig öffnete Wolfram die Flasche und schenkte den Champagner aus.
    »Tja, sie versuchen natürlich, einen mächtig einzuschüchtern«, antwortete er. »All diese höheren Offiziere in Galauniform mit ihren verächtlichen Blicken – mit ihren feierlichen Mienen. Die lassen einen stundenlang schmoren.« Er schenkte Lysander nach. »Wenn man dann Haltung und Ruhe bewahrt, ist die Sache schon halb gewonnen.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dein hervorragender Whisky hat mir dabei gute Dienste geleistet.«
    Sie stießen miteinander an.
    »Das wäre also erledigt«, sagte Lysander. »Was hat ihnen denn zur Einsicht verholfen?«
    »Ein beschämender Mangel an Beweisen. Dafür habe ich ihnen einen kleinen Denkanstoß verpasst. Der hat geholfen, den Verdacht vom verschlagenen Slowenen abzulenken.«
    »Ach – und wie?«
    »Im Regiment gibt es diesen Hauptmann, Frankenthal. Er kann mich nicht leiden. Ein arroganter Kerl. Irgendwie ist es mir gelungen, meine Vorgesetzten daran zu erinnern, dass Frankenthal ein jüdischer Name ist.« Wolfram zuckte mit den Achseln. »Frankenthal hatte den Schlüssel eine Woche lang in seiner Obhut, genau wie ich.«
    »Aber was spielt es für eine Rolle, dass er Jude ist?«
    »Ist er nicht – seine Familie hat sich schon vor einer Generation zum katholischen Glauben bekehrt. Und dennoch … « Wolfram grinste schalkhaft. »Sie hätten ihren Namen ändern sollen.«
    »Mir ist nicht klar, warum.«
    »Mein lieber Lysander – wenn sie das Verbrechen schon keinem Slowenen anhängen können, dann ist ein Jude sogar noch besser.« Wolfram trank sein Glas aus. »Geschieht dem Mistkerl recht. Und ich habe einen Monat Urlaub, als Wiedergutmachung für diese ›Zumutung‹. Ich bleibe dir also noch ein Weilchen erhalten. Ende September fangen wir mit den Feldübungen an.« Er lächelte. »Wie war’s mit dem Landei?«
    »Oh, mit Traudl meinst du. Ja. Sehr nett. Vielen Dank.« Lysander wechselte rasch das Thema. »Was hättest du gemacht, wenn es

Weitere Kostenlose Bücher