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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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nicht zum Freispruch gekommen wäre?«
    Wolfram dachte kurz nach. »Dann hätte ich mich wohl umgebracht.« Er runzelte die Stirn, als ginge er in Gedanken nüchtern sämtliche Möglichkeiten durch. »Wahrscheinlich hätte ich mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Oder Gift genommen.«
    »Mein Gott! Das ist doch nicht dein Ernst?«
    »Aber sicher – du musst nämlich wissen, Lysander, dass der Freitod hier in Wien, in unserem verfallenden Kaiserreich, als vollkommen vernünftige Lösung gilt. Jeder wird verstehen, was in einem vorgegangen ist und warum man keine andere Wahl hatte – niemand wird einen deswegen verdammen.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Sobald du das verstehst, verstehst du uns.« Wolfram lächelte. »Wir haben ihn zutiefst verinnerlicht. Den Selbstmord – das Wort spricht für sich. Eine durchaus ehrenwerte Art, diese Welt zu verlassen.«
    Nachdem sie die Flasche ausgetrunken hatten, ging Lysander einigermaßen angeheitert in sein Zimmer. Er dachte daran, das Abendessen diesmal ausfallen zu lassen – er könnte vielleicht in ein Café gehen und weitertrinken. Ihm war ganz beschwingt zumute, natürlich freute er sich für Wolfram, aber auch, weil es ihm selbst endlich gelungen war, das Schweigen über seine Vergangenheit zu brechen.
    Auf dem Schreibtisch erwartete ihn seine Post. Ein Brief von Blanche, einer von seiner Londoner Bank und ein Umschlag mit österreichischer Briefmarke und einer ihm unbekannten Handschrift. Er riss ihn auf. Darin steckte eine Einladung zur Vernissage einer Ausstellung »neuerer Werke« des Künstlers Udo Hoff in einer zentral gelegenen Galerie – der Bosendorfer-Renz-Galerie für moderne Kunst. Am unteren Rand stand in grüner Tinte und mit ausladenden bauchigen Buchstaben der Appell: »Kommen Sie! Hettie Bull.«

11. Parallelismus
    Auf Bensimons Anregung hin war Lysander vom Sessel zum Diwan gewechselt. Er wusste noch nicht so recht, was dieser Platztausch und die veränderte Körperhaltung bewirken würden, doch Bensimon hatte darauf bestanden. Den Kopf auf mehrere Kissen gebettet, hatte Lysander immer noch eine ausgezeichnete Sicht auf das afrikanische Flachrelief.
    »Wie alt war Ihre Mutter, als Ihr Vater starb?«, fragte Bensimon.
    »Fünfunddreißig … sechsunddreißig, um genau zu sein.«
    »Noch recht jung.«
    »Durchaus.«
    »Wie hat sie auf den Tod Ihres Vaters reagiert?«
    Lysander dachte an diese Zeit zurück, an den grausamen Schock, die bodenlose Trauer, die er selbst empfunden hatte, als die Nachricht kam. Im dunklen Nebel seiner von eigenen Gefühlen befrachteten Erinnerung fiel ihm wieder ein, wie schwer es seine Mutter getroffen hatte.
    »Sie war am Boden zerstört – kein Wunder. Sie betete meinen Vater an, lebte nur für ihn. Als sie heirateten, gab sie ihre Karriere auf. Sie begleitete ihn auf sämtlichen Reisen. Nach meiner Geburt war auch ich immer dabei. Er hatte nämlich eine eigene Truppe, abgesehen von seinen Engagements an Londoner Theatern. Sie half ihm bei der Organisation, erledigte die tägliche Verwaltungsarbeit. Wir waren immerzu auf Tournee durch ganz England, Irland, Schottland. Lebten in gemieteten Häusern oder Wohnungen – ein richtiges Heim hatten wir eigentlich nie. Als er starb, waren wir in einer Wohnung in South Kensington untergebracht. Trotz seines Ruhms und Erfolgs war mein Vater bei seinem Tod praktisch bankrott – er hatte sein ganzes Geld in die Halifax Rief Theatre Company gesteckt. Für meine Mutter war kaum etwas übrig geblieben. Ich weiß noch, dass wir nach Paddington umziehen mussten. Zwei Zimmer, ein Kamin, Küche und Badezimmer teilten wir mit zwei anderen Familien.«
    Lysander hatte die Zimmer lebhaft vor Augen. Vor Schmutz starrende Fenster, auf dem Boden abgenutztes Linoleum voller Flicken. Der Rußgestank vom benachbarten Bahnhof, das Tuten und Pfeifen auf den Rangiergleisen, das Poltern und Donnern der Eisenbahnwaggons und seine Mutter, die Tag und Nacht leise vor sich hin weinte. Dann lernte sie aus heiteremHimmel Crickmay Faulkner kennen, und alles wurde anders.
    Nach reiflicher Überlegung fügte er hinzu: »Eine Zeitlang hat sie getrunken. Das hat sie sehr diskret gehandhabt, doch in den Monaten nach der Beerdigung hat sie viel getrunken. Sie hat sich nie ungebührlich benommen, aber ich konnte es riechen, wenn sie ins Bett kam.«
    »Ins Bett kam?«
    »Damals hatten wir nur ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer zur Verfügung«, erklärte Lysander. »Wir haben im selben Bett geschlafen. Bis Lord Faulkner um

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