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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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ihre Hand anhielt und uns in Putney unterbrachte, wo ich ein eigenes Zimmer bekam.«
    »Ich verstehe. Wie hat Ihre Mutter Ihren Vater kennengelernt? Ist er nach Wien gekommen?«
    »Nein. Meine Mutter sang im Chor einer deutschen Opernkompanie, die 1884 durch England und Schottland tourte. Sie hatte – hat – einen sehr schönen Mezzosopran. In Glasgow trat sie im King’s Theatre auf, in Wagners Tristan , der abwechselnd mit der Macbeth -Inszenierung von Halifax Riefs Theatertruppe aufgeführt wurde. Sie lernten sich hinter den Kulissen kennen. Es war Liebe auf den zweiten Blick, sagte mein Vater immer.«
    »Warum auf den zweiten Blick?«
    »Auf den ersten Blick hatte er nach eigenem Bekunden nicht gerade an Liebe gedacht. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Aber sicher. ›Liebe auf den zweiten Blick‹. Ein hübsches Kompliment.«
    »Warum stellen Sie mir all diese Fragen über meine Mutter, Dr. Bensimon? Ich bin schließlich nicht Ödipus.«
    »Gott bewahre, das ganz bestimmt nicht. Ich glaube allerdings, das, was Sie mir beim letzten Mal erzählt – was Sie mir vorgelesen – haben, birgt den Schlüssel zu Ihrer Heilung. Ich versuche nur, mehr über die Hintergründe zu erfahren, über Ihr Leben.«
    Lysander hörte ihn den Stuhl zurückschieben. Die Sitzung war beendet.
    »Ich hatte Sie doch gefragt, ob Ihnen Parallelismus ein Begriff ist, wissen Sie noch?« Bensimon hatte den Raum durchquert und stand nun direkt am Rande seines Blickfelds. Ein Schatten, der die Hand ausstreckte. Lysander schwang die Beine vom Diwan, stand auf und nahm das dargebotene Büchlein entgegen, das kaum umfangreicher war als eine Broschüre. Marineblauer Einband mit Silberschrift. Unsere Parallelleben. Eine Einführung , von Dr.J. Bensimon MB BS (Oxon).
    »Ein Privatdruck. Gerade arbeite ich die vollständige Fassung aus. Mein Opus magnum. Nimmt leider ziemlich viel Zeit in Anspruch.«
    Lysander drehte und wendete das Buch.
    »Könnten Sie mir in ein paar Worten sagen, worum es geht?«
    »Tja, das ist gar nicht so einfach. Gehen wir mal davon aus, dass die Welt an sich neutral ist – flach, leer, ohne jeden Sinn und Gehalt. Bis wir sie kraft unserer Vorstellung mit Farben, Gefühlen, Bedeutungen füllen. Wir machen die Welt lebendig. Haben wir das einmal begriffen, können wir unsere Welt nach Belieben selbst gestalten. Theoretisch.«
    »Klingt sehr radikal.«
    »Im Gegenteil – es ist sehr vernünftig, wenn man es nur richtig handhabt. Lesen Sie es, lassen Sie es auf sich wirken.« Er blickte Lysander forschend an. »Ich scheue mich ein wenig, das zu sagen, und es kommt sehr selten vor, dass ich eine solche Prognose wage, aber ich glaube, dass der Parallelismus Sie heilen wird, Mr Rief, das glaube ich wirklich.«

12. Andromeda
    Am Tag von Udo Hoffs Vernissage war Lysander seltsam verunsichert. Er hatte schlecht geschlafen, und schon, als er sich am Morgen rasierte, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut – er verspürte eine ganz und gar untypische Nervosität, wegen dieser anstehenden Vernissage, wegen des Wiedersehens mit Miss Bull. Er schäumte den Pinsel mit Rasierseife ein und trug sie auf Wangen, Kinn und um den Kiefer herum auf; als er sich, die Lippen einziehend, mit dem Pinsel unter die Nase fuhr, überlegte er automatisch, ob er sich einen Schnurrbart wachsen lassen sollte. Die Antwort kam wie immer aus der Pistole geschossen und lautete nein. Das hatte er bereits ausprobiert und es stand ihm nicht; es ließ ihn dreckig erscheinen, als hätte er versäumt, sich einen Klecks Ochsenschwanzsuppe von der Oberlippe zu wischen. Für einen Schnurrbart hatten seine Haare nicht den richtigen Braunton. Bei einem jungen Gesicht war ein Schnurrbart nur gerechtfertigt, wenn er einen starken Kontrast erzeugte – wie bei diesem Munro von der Botschaft, beinah schwarz und völlig akkurat, wie angeklebt.
    Er zog sich mit Bedacht an, kombinierte seinen leichten marineblauen Anzug mit schwarzen Budapestern und einem weißen Stehkragenhemd sowie einer scharlachroten, getüpfelten Krawatte mit einfachem Knoten. Ein knalliger Farbtupfer, der seine ach so künstlerische Ader anzeigen sollte. Sein Vater hätte das nicht gebilligt – Halifax Rief, selbst stets elegant und erlesen gekleidet, war der Ansicht gewesen, dass niemand den Stil eines Mannes beziehungsweise die Mühe und Sorgfalt, die er auf seine Kleidung verwendete, bemerken sollte, ehe nicht mindestens fünf Minuten verstrichen waren. Jegliche Form von Zurschaustellung fand

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