Eine große Zeit
er geschmacklos.
Lysander entschloss sich, das Kunsthistorische Hofmuseum am Burgring zu besichtigen. Er war sich darüber im Klaren, dass das nur eine symbolische Handlung war, völlig sinnlos, aber er sah sich in der Galerie herumstehen, die Hoffs Werke ausstellte, von lauter Menschen umgeben, die sich alle mit klassischer und zeitgenössischer Kunst auskannten und zu allem eine Meinung hatten. Wie sollte er mit diesen Intellektuellen, Kunstkritikern, Sammlern und Experten ins Gespräch kommen? Wieder wurden ihm die riesigen Lücken bewusst, die in seiner Allgemeinbildung klafften. Shakespeare, Marlowe, Sheridan, Ibsen, Shaw konnte er seitenweise zitieren – zumindest jene Werkauszüge, die er im Lauf seiner Tätigkeit hatte pauken müssen. Er hatte eine Menge Lyrik des 19. Jahrhunderts gelesen – diese Lyrik liebte er – , aber er hatte so gut wie keine Ahnung von der sogenannten »Avantgarde«. Er kaufte regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften, verfolgte mehr oder weniger das Weltgeschehen und die europäische Politik – auf den ersten Blick wirkte er wie die äußerst glaubwürdige Verkörperung eines weltläufigen, gebildeten, kompetenten Zeitgenossen, doch wenn er auf echten Geist und Intellekt traf, erkannte er jedes Mal, wie dürftig seine Maskerade war. Du bist doch Schauspieler, ermahnte er sich, dann spielst du ihnen eben etwas vor! Außerdem hast du noch jede Menge Zeit, dir Wissen anzueignen, du bist beileibe kein Idiot, im Gegenteil, graue Zellen hast du zuhauf. Es ist ja nicht deine Schuld, dass du ständig die Schule wechseln musstest und deine Bildung darunter gelitten hat. Als Erwachsener hast du dich eben auf deine Theaterkarriere konzentriert – Vorsprechen, Proben, kleine Rollen, die zunehmend größer wurden. Eigentlich hatte er nur im letzten Stück, in dem er mitgespielt hatte – Ein romantisches Ultimatum – , eine nennenswerte Hauptrolle gehabt, immerhin die zweite männliche Hauptrolle, auf dem Plakat prangte sein Name in genauso großen Lettern wie der von Mrs Cicely Brightwell, keinen Millimeter kleiner, und daran zeigte sich klar und deutlich, wie weit er es binnen weniger Jahre schon gebracht hatte. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen.
Im Museum lief er durch die großzügigen Säle im ersten Stock, betrachtete die düsteren, firnisbedeckten Bilder von Heiligen und Madonnen, antiken Gottheiten und melancholischen Kreuzigungen, trat näher, um die Künstlernamen am Rahmenrand zu lesen, und hakte sie in Gedanken ab. Caravaggio, Tizian, Bonifazio, Tintoretto, Tiepolo. Natürlich waren ihm diese Namen geläufig, doch nun konnte er sagen: »Kennen Sie Bordones Version von Venus und Adonis ? Wie’s der Zufall will, habe ich sie mir heute im Hofmuseum angesehen. Wirklich ergreifend, ein Meisterwerk.« Nach und nach entspannte er sich. Es war schließlich auch nur Theater, und das wiederum war sein Metier, seine Berufung, sein Spezialgebiet.
Er ging weiter. Auf einmal waren die Maler alle holländisch – Rembrandt, Frans Hals, Hobbema, Memling. Und was war das? Überfall auf einen Wagenzug von Philips Wouwerman. Kraftvoll, abgründig, dunkelhäutige Räuber, die mit silbernen Entermessern und spitzen Hellebarden angriffen. »Sind Sie mit Wouwermans Werk vertraut? Es hat eine ungeheure Wucht.« Wo waren eigentlich die Deutschen? Ach, hier also – Cranach, d’Pfenning, Albrecht Dürer … Doch inzwischen verwirbelte und verballhornte er im Geist die vielen Namen und wurde schlagartig müde. Zu viel Kunst – museale Erschöpfung. Zeit für eine Zigarette und einen Kapuziner. Er hatte genug Stoff gesammelt, um für flüchtigen Smalltalk aller Art gewappnet zu sein – es ging ja nicht darum, eine Anstellung als Kurator zu ergattern, um Himmels willen.
Am Ring entdeckte er eine Bude, wo er, am Tresen gelehnt, eine Virginia rauchte und an seinem Kaffee nippte. Wirklich eine Prachtstraße, dachte er – in London gab es nichts Vergleichbares, allerhöchstens die Mall, die dagegen aber deutlich abfiel. Der ausgedehnte Kreis, den der Straßenzug um den alten Stadtkern bildete, die sorgfältig angeordneten Palais und öffentlichen Bauten mit ihren Park- und Gartenanlagen. Wunderschön. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – bevor er sich in der Galerie zeigen konnte, musste er noch eine gute Stunde totschlagen. Er fragte sich, wie Udo Hoff wohl sein mochte. Wahrscheinlich sehr prätentiös, genau die Sorte Mann, die auf Miss Bull eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben
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