Eine große Zeit
zurück und nahm sich die Autobiographischen Untersuchungen vor. Er fühlte eine gewisse Verzagtheit. Egal, wie die Verhandlung ausging – Wolfram würde die Pension bald verlassen, würde entweder rehabilitiert in die Kaserne zurückkehren oder unehrenhaft in das Zivilleben entlassen werden. Dann würde er vermutlich wieder in Slowenien landen … Wolfram würde ihm fehlen. Er notierte sich ein paar Fakten zum Fall des Leutnant Rozman. »Kein Mensch ist ganz frei von Schuld«, hielt er fest, und dabei fiel ihm ein, wie raffiniert es tatsächlich wäre, für ein Dutzend potentielller Verdachtspersonen zu sorgen, wenn man einen Diebstahl plante. Eine Ansammlung von Verdächtigen, die den Täter verdeckte. Er unterstrich den Satz Kein Mensch ist ganz frei von Schuld . Vielleicht war es an der Zeit, dass er Bensimon sein schwärzestes, schändlichstes Geheimnis anvertraute …
Wieder klopfte es an der Tür. Lysander warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Herr Barth käme erst in einer Stunde. Auf sein »Herein« tauchte Traudl zum zweiten Mal auf und machte die Tür hinter sich zu.
»Grüß dich, Traudl. Was gibt’s?«
»Frau Kriwanek ist gerade bei ihrer Schwester zu Besuch und Herr Barth schläft in seinem Zimmer.«
»Nun gut, so weiß ich Bescheid.«
»Bevor er das Haus verließ, hat Leutnant Rozman mir zwanzig Kronen gegeben und gesagt, ich soll zu Ihnen gehen.«
»Weshalb?«
»Damit Sie sich mit mir vergnügen.«
Bei diesen Worten bückte sie sich und raffte ihren schweren Rock samt Schürze bis zur Taille hoch; im Halbschatten darunter erblickte Lysander ihre Oberschenkel, zwei hellen Säulen gleich, und das dunkle Dreieck ihrer Scham.
»Danke, aber daran habe ich keinen Bedarf, Traudl.«
»Und was ist mit den zwanzig Kronen?«
»Die kannst du behalten. Ich werde Leutnant Rozman sagen, dass wir uns prächtig amüsiert haben.«
»Sie sind ein herzensguter Mensch, Herr Rief.« Traudl machte einen Knicks.
Kein Mensch ist ganz frei von Schuld, dachte Lysander, während er Traudl die Tür aufhielt. Er wollte ihr Trinkgeld geben und wühlte in den Hosentaschen nach Münzen, fand aber nur eine Visitenkarte. Was brauchte sie auch Trinkgeld – sie hatte gerade zwanzig Kronen verdient.
»Ich kann gern ein andermal vorbeikommen«, sagte Traudl.
»Nein, nein, nicht nötig.«
Lysander machte die Tür hinter ihr zu. Sieh einer an, der Strom der Lust. Er betrachtete die Visitenkarte in seiner Hand – wer war das überhaupt?
»Hauptmann Alwyn Munro DSO«, las er. »Militärattaché, Britische Botschaft, Metternichgasse 6, Wien III.«
Schon wieder so ein gottverdammter Soldat. Er legte die Karte auf seinen Schreibtisch.
9. Autobiographische Untersuchungen
Es ist der Sommer des Jahres 1900. Ich bin vierzehn und lebe in Claverleigh Hall in East Sussex, dem Landsitz meines Stiefvaters Lord Faulkner. Mein Vater ist seit einem Jahr tot. Neun Monate nach seiner Beerdigung hat meine Mutter Lord Faulkner geheiratet. Sie ist seine zweite Ehefrau, die neue Lady Faulkner. In der Nachbarschaft freuen sich alle für den alten Lord, einen schroffen, aber gütigen Witwer Ende fünfzig, der einen erwachsenen Sohn hat.
Ich weiß noch immer nicht so recht, wie ich dieses neue Arrangement finde, diese neue Familie, dieses neue Zuhause. Claverleigh und die dazugehörigen Ländereien bleiben für mich in weiten Teilen Terra incognita. Jenseits der beiden umfriedeten Gärten gibt es Wälder und Felder, Haine und Auen, Koppeln und zwei Bauernhöfe, die sich über die Hügel von East Sussex erstrecken. Ein großes, gut geführtes Anwesen, auf dem ich mich unablässig fremd fühle, obwohl die Bediensteten alle sehr freundlich sind, die Lakaien, Hausmädchen, Kutscher und Gärtner. Sie lächeln, wenn sie mich sehen, und nennen mich »Master Lysander«.
Man hat mich von meiner Londoner Schule genommen – »Mrs Chalmers Musterschule für Jungen« – , nun werde ich vom hiesigen Pfarrer unterrichtet, dem Reverend Farmiloe, einem alten, gelehrten Junggesellen. Mutter hat mir gesagt, dass ich im Herbst höchstwahrscheinlich auf ein Internat komme.
Es ist Samstag, ich habe also keinen Unterricht, aber der Reverend hat mir aufgetragen, ein Gedicht von Alexander Pope zu lesen, »Der Lockenraub«. Es fällt mir sehr schwer. Nach dem Mittagessen nehme ich das Buch in den großen umfriedeten Garten mit, auf der Suche nach einer abgeschiedenen Bank, um meine mühselige Lektüre fortzusetzen. An sich mag ich Lyrik, ich kann sie mir gut
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