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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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blieb stumm. Sein Arzt musste den Anfang machen.
    »Aha«, sagte Bensimon. »So, so. Damals waren Sie also vierzehn.«
    »Ich hatte wohl ein paar Stunden geschlafen und deswegen die Teestunde verpasst. Meine besorgte Mutter machte sich auf die Suche. Die Gärtner erzählten ihr, dass ich in den Wald gegangen war.«
    »Und Sie hatten zu masturbieren begonnen – «
    »Und war eingeschlafen. Tief und fest. Die Sonne, die Hitze. Ein reichhaltiges Mittagessen … Und dann fand mich meine Mutter allem Anschein nach bewusstlos vor, mit heruntergezogener Hose, halb entblößt, ungeschützt. Da musste sie ja in Panik geraten.«
    »Wie wurde mit dem jungen Gärtner verfahren?«
    »Er wurde vom Gutsverwalter umgehend entlassen, ohne Lohn und ohne Zeugnis. Andernfalls hätte man die Polizei eingeschaltet. Sein Vater beteuerte, Tommy habe nichts verbrochen – auch wenn er einräumen musste, dass sein Sohn nicht den ganzen Nachmittag im Garten zugebracht hatte –, und wurde ebenfalls entlassen.«
    »Wie sollte man dem jungen Master Lysander auch keinen Glauben schenken?«
    »Ja genau. Ich hatte entsetzliche Schuldgefühle. Sie dauern bis heute an. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Auch ihr Cottage auf dem Anwesen haben sie verloren. Ich wurde krank – ich erinnere mich, dass ich tagelang geweint habe – und lag zwei Wochen im Bett. Danach brachte mich meine Mutter nach Margate in ein Hotel. Ich wurde von mehreren Ärzten untersucht und bekam alle möglichen Medikamente verabreicht, zur ›Stärkung meiner Nerven‹. Und dann wurde ich in dieses schreckliche Internat verfrachtet.«
    »Und es wurde nie wieder darüber gesprochen?«
    »Nie wieder. Ich war schließlich das Opfer. Krank, zerrüttet, bleich. Ich weinte jedes Mal, wenn ich nach dem Vorfall gefragt wurde. Darum verhielten sich in meinem Umfeld alle sehr vorsichtig, ängstlich darauf bedacht, mich nicht zu verletzen, nach allem, was ich ›durchlitten‹ hatte. Man behandelte mich wie ein rohes Ei.«
    »Interessant, dass Sie den Gärtnerssohn beschuldigt haben … « Bensimon schrieb etwas auf. »Wie hieß er doch gleich?«
    »Tommy Bledlow.«
    »Das wissen Sie noch.«
    »Wie sollte ich es je vergessen.«
    »Er hatte Sie eingeladen, mit ihm auf die Jagd zu gehen – mit seinem Frettchen.«
    »Das hatte ich abgelehnt.«
    »Fühlten Sie sich zu ihm sexuell hingezogen?«
    »Oh … Nein. Jedenfalls nicht so, dass es mir aufgefallen wäre. Er war bloß der Letzte, mit dem ich gesprochen hatte. Vor lauter Panik und Eile habe ich einfach den erstbesten Namen aus der Luft gegriffen.«
    Lysander fuhr mit der Tram in die Mariahilfer Straße zurück. Während sie sich scheppernd und schaukelnd durch die Stadt bewegten, saß er wie betäubt da. Bensimon war der einzige Mensch, dem er je die Wahrheit über diesen Jahrhundertwende-Sommertag verraten hatte, und er musste sich eingestehen, dass die Preisgabe seines dunklen Geheimnisses zu einer gewissen Katharsis geführt hatte. Er blickte sich um, seltsam unbeschwert, als löste er sich von seiner Vergangenheit, von der Welt, die er gerade durchquerte, und von ihren Bewohnern. Er betrachtete die anderen Fahrgäste – sie lasen, schwatzten, träumten, starrten mit leerem Blick aus dem Tramfenster – und fühlte sich auf merkwürdige Art auserwählt. Wie der Mann mit dem Gewinnlos in der Tasche, oder der Mörder, der unentdeckt vom Tatort zurückkehrt – er hatte den Eindruck, abseits, über ihnen zu stehen, ihnen fast überlegen zu sein. Wenn ihr nur wüsstet, was ich heute enthüllt habe; wenn ihr nur wüsstet, wie grundlegend sich mein Leben von nun an ändern wird …
    Letzteres war nur ein frommer Wunsch, wie er gleich erkannte. Was an jenem Nachmittag im Juni 1900 passiert war, bildete die ausradierte Stelle in der Geschichte seines Lebens, eine große, eingeklammerte weiße Lücke in der Chronik seines Alltags als Vierzehnjähriger. Anschließend hatte er nie wieder daran gedacht – hatte eine undurchdringliche geistige Quarantänesperre darum errichtet, um alles abzuwehren, was unerwünschte Erinnerungen hätte wachrufen können. Er war oft im Wald von Claverleigh spazieren gegangen; er und seine Mutter standen sich sehr nah; er hatte sich mit den Gärtnern und Gutsarbeitern unterhalten, ohne ein einziges Mal an Tommy Bledlow zu denken. Der Vorfall war vergessen, ausgelöscht – hatte sich mit der Zeit erfolgreich verflüchtigt – , als hätte man ihm ein krankes Organ oder einen Tumor entfernt und danach

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