Eine große Zeit
vor ihrem Wiedersehen einigermaßen bang zumute gewesen, mit gutem Grund, wie sich herausstellen sollte. Er hatte sich nervös, seltsam wortkarg, übellaunig und reizbar gezeigt.
»Es gibt eine andere, nicht wahr, in Wien?«, hatte Blanche nach fünf Minuten gefragt.
»Nein. Das heißt ja … es gab eine andere, aber das ist jetzt vorbei. Aus und vorbei.«
»Das sagst du so – dabei kommst du mir vor wie die täuschend echte Verkörperung eines liebeskranken Mondkalbs, das vor Sehnsucht nach seiner Angebeteten vergeht.«
Sie streifte seinen Ring ab und gab ihn Lysander zurück. Da aßen sie gerade nach Blanches Vorstellung in einem Wirtshaus an der Strand zu Abend.
»Ich werde deine Freundin bleiben, Lysander«, sagte sie wohlwollend, »aber nicht deine Verlobte.« Sie ergriff seine Hand. »Komm erst einmal zur Besinnung, Liebling. Und wenn dir dann immer noch danach ist, machst du mir wieder einen Heiratsantrag. Mal sehen, was ich dann sage.«
Lysander ging zum Tresen, um sich noch einen Krug zu holen. Erst vier Uhr nachmittags und er war beim zweiten Bier. Er sah Molly beim Zapfen zu – sie zog zweimal lange am Hebel, schon schwappte die Schaumkrone fast über den Rand. Er legte eine Handvoll Kupfermünzen auf den Tresen, und Molly suchte sich die richtige Summe zusammen. Ihre künstlich wirkenden Locken klebten vor Schweiß an den Schläfen. Er sollte Blanche heiraten, zum Teufel – diese Frau war für ihn in jeder Hinsicht die Richtige.
»Greville? Bist du da?«, rief Lysander, als er die Wohnungstür hinter sich schloss. Keine Antwort. Er ließ die Schlüssel in eine Schale auf dem Dielentisch fallen. Mrs Tozer, die Haushälterin, war zum Aufräumen und Putzen gekommen, der Geruch von Bienenwachspolitur stieg ihm in die Nase. Die Post hatte sie in zwei Stapel für ihre jeweiligen »Gentlemen« aufgeteilt, und er stellte leicht verdrießlich fest, dass Greville doppelt so viele Briefe erhalten hatte wie er. Die Wohnung befand sich im letzten Stock eines Gebäudes, das höchstens zehn Jahre zählte. Von Grevilles Schlafzimmer aus konnte man einen Blick auf Nelson auf der Säulenspitze am Trafalgar Square erhaschen. Es gab ein Wohnzimmer, zwei geräumige Schlafzimmer, eine kleine Küche und ein Bad mit Wasserklosett. Die Dienstmädchenkammer hatten sie zu einem begehbaren Kleiderschrank und Ankleideraum umfunktioniert, den sie gemeinsam nutzten, sowohl Greville als auch er hatten viel zu viel Kleidung. Alle Habseligkeiten, die er im Wiener Gartenhaus zurückgelassen hatte, waren von Munro umgehend nach London verschifft worden – von Lysanders Aufenthalt war nicht die kleinste Spur geblieben.
Er sah seine Post durch – Rechnung, Rechnung, eine Postkarte aus Dublin (»Wärst du doch auch hier. B«), ein Telegramm von seiner Mutter (BITTE KIEBITZEIER BEI FORTNUMS ABHOLEN STOP) und – er bekam einen trockenen Mund – ein Umschlag mit österreichischer Briefmarke, Kaiser Franz-Josef im Profil, eine Nachsendung von seiner alten Wohnung, das Datum des Poststempels lag mehr als zwei Wochen zurück.
Lysander ging ins Wohnzimmer und schlitzte den Umschlag mit einem Brieföffner auf. Er wusste, welche Neuigkeit ihn erwartete, verharrte eine Weile reglos am Schreibtisch, wagte nicht, den Brief herauszuziehen.
»Komm schon«, sprach er sich laut zu. »Sei nicht albern.«
Ein einziges Blatt. Hetties kindlich ungelenke Handschrift.
Liebster Lysander,
es ist mir eine große Freude, Dir die Geburt unseres Sohnes anzuzeigen. Ich hatte Dir doch gesagt, dass es ein Junge werden würde, nicht wahr? Am 12. Juni um halb elf Uhr abends hat er das Licht der Welt erblickt. Ein stattliches Baby von fast viereinhalb Kilo, mit einem kräftigen Paar Lungen. Ich hätte ihm gern Deinen Vornamen gegeben, aber das kam natürlich nicht in Frage, und so habe ich ihn stattdessen Lothar genannt. Wenn man Lysander-Lothar ein paarmal ganz schnell hintereinander spricht, klingen beide Namen fast gleich – in meinen Ohren jedenfalls.
Du fehlst mir sehr, und ich danke Dir aus tiefstem Herzen für das, was Du auf Dich genommen hast. Deine Flucht hat in Wien einen Riesenskandal ausgelöst, ein paar Zeitungen haben darüber berichtet. Die Polizei wurde wegen ihres völligen Versagens heftig angeprangert. Du kannst Dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als ich von Deinem Verschwinden hörte und erfuhr, dass es keine Verhandlung geben würde.
Du kannst mir jederzeit an die Adresse des Cafés Sorgenfrei, Sterngasse, Wien schreiben.
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