Eine große Zeit
Tarnung«, fügte Lysander hinzu.
»Das haben wir auch festgestellt … Wo ist der Kontrabass denn abgeblieben?«
»Ich habe ihn im Zug gelassen, als ich in Graz umsteigen musste. Das hat mir ein wenig leidgetan.«
»Munro und ich waren begeistert. Wir haben Tränen gelacht, bevor ich ebenfalls in den Zug gesprungen bin.«
»Haben Sie mich als vermisst gemeldet?«
»Selbstverständlich. Nach genau einer Stunde – aber sie wussten schon Bescheid. Die Botschaftsspitzel waren uns zuvorgekommen. Wir haben uns dennoch rechtschaffen empört gezeigt und uns tausendmal entschuldigt. Wir waren zutiefst beschämt.«
Nach dem Frühstück kaufte ihm Fyfe-Miller die Fahrkarte nach Ancona und sie gingen gemeinsam zum neuen Hafen, um die Mole ausfindig zu machen, wo der Postdampfer lag.
Am Fuß der Landungsbrücke gab Fyfe-Miller Lysander die Hand. »Auf Wiedersehen, Rief. Und alle Achtung. Ich bin sicher, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.«
»Ich gehe nur schweren Herzens«, sagte Lysander. »In Wien gäbe es für mich noch eine Menge zu klären.«
»Tja, Sie werden auf keinen Fall dorthin zurückkehren können«, entgegnete Fyfe-Miller mit seiner üblichen Schroffheit. »Für die österreichisch-ungarischen Behörden sind Sie jetzt ganz offiziell ein Gerichtsflüchtling.«
Diese Vorstellung betrübte Lysander. Da ertönte die Dampfpfeife am Schornstein.
»Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung – Ihnen und Munro«, sagte Lysander. »Das vergesse ich Ihnen nie.«
»Wir auch nicht«, erwiderte Fyfe-Miller mit einem breiten Grinsen. »Sie schulden der Regierung Seiner Majestät eine beträchtliche Summe.«
Nach dem Händedruck wünschte Fyfe-Miller ihm bon voyage , und Lysander ging an Bord des verlotterten Küstenfrachters. Die Dampfzufuhr wurde erhöht, die Schiffstaue gelöst, dann verließ das kleine Schiff den geschäftigen Hafen von Triest. Lysander blieb am Achterdeck stehen, an die Reling gelehnt, und beobachtete, wie die Stadt samt ihrem Schloss auf den Klippen allmählich verschwand, ließ die großartige dalmatinische Steilküste auf sich wirken. Ein herrlicher Anblick im Wintersonnenlicht, das war nicht zu leugnen; ein melancholisches Gefühl von Frieden erfüllte ihn, und er fragte sich, ob er dieses Land je wiedersehen würde. Verzagt dachte er, dass alles, was er in Wien noch hätte klären wollen – die Sache mit Hettie und ihrem gemeinsamen Kind – , wohl für immer ungeklärt bliebe.
TEIL ZWEI
LONDON 1914
1. Maß für Maß
Nachdem Lysander sich geräuspert, geschnäuzt und bei den anderen Mitwirkenden entschuldigt hatte, nahm er sein Rollenbuch wieder zur Hand. Die Fenster und Türen standen alle weit offen, so dass drinnen vermutlich fast ebenso viele Sommerpollen umherschwirrten wie draußen im Garten. Das dürfte seinen Niesanfall erklären, dachte Lysander. Am anderen Ende des langen Tisches fächelte sich Gilda Butterfieldmit den Fingern Luft an den feuchten Hals. Wahrhaft ein Juni in Flammen, und mit diesem Bild war er in Gedanken sogleich bei Blanche. Ihre Vorhersage hatte sich bewahrheitet – June in Flammen wurde zu einem nachhaltigen Riesenerfolg,und inzwischen war sie damit zu einer endlos langenTournee aufgebrochen. Wo war sie gerade? Dublin, überlegte er, oder Edinburgh? Ja, er sollte wirklich versuchen, sie zu …
»Wenn du bereit bist, können wir gern weitermachen, Lysander«, sagte Rutherford Davison. Lysander fiel auf, dass er von allen anwesenden Männern als Einziger seine Jacke anbehalten hatte, der Hitze zum Trotz. Er las seinen Text.
»Und daß kein andres Mittel ihn zu retten wäre,
als ihr müßtet entweder diesem vorausgesezten
den Genuß eurer Schönheit überlassen,
oder euern Bruder leiden sehen,
was würdet ihr thun?«
Davison hob die Hand.
»Warum sagt er das wohl? Was meinst du?«
»Weil er frustriert ist. Vor Begierde brennt. Und aus Verbitterung«, sagte Lysander, ohne nachzudenken.
»Verbitterung?«
»Er hat das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein.«
»Aber er stammt doch aus dem Hochadel, er beherrscht ganz Wien.«
»Auch Wien schützt nicht vor Verbitterung.«
Alle lachten, stellte Lysander erfreut fest, obwohl er gar keinen Witz intendiert, sondern sich nur spontan geäußert hatte. Ihm war völlig entfallen, dass Maß für Maß in Wien spielte – dieses merkwürdige Stück über Wollust und Reinheit, Tugend und Laster, das ihn auf unbehagliche Weise an die Stadt und alles, was er dort erlebt hatte, erinnerte. Für einen
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