Eine große Zeit
Schauspielerinnen in Verruf. Was würde Greville wohl dazu sagen? Als er ihr die Tür aufhielt, trat Rutherford Davison hindurch.
»Ach, Lysander, hättest du kurz Zeit?«
Der Schweiß lief Lysander über den Rücken – er hätte lieber den Bus nehmen sollen statt der Untergrundbahn. Es war tatsächlich sehr heiß, aber vor allem schwitzte er stärker als sonst, weil er sich geärgert hatte. Nachdem alle anderen gegangen waren, hatte Davison ihn noch zwanzig Minuten zurückgehalten und ihm einen Haufen stumpfsinniger Fragen zu seiner Figur gestellt. War Angelo ein Einzelkind oder hatte er Geschwister? Falls ja, wie viele und welchen Geschlechts? Was hatte er wohl unmittelbar vor seinem großen Monolog im zweiten Akt gemacht? Hatte er viel von der Welt gesehen? Ob er gesundheitliche Probleme hatte, die er geheim hielt? Lysander hatte sich alle Mühe gegeben, die Fragen ernsthaft zu beantworten, er wusste, dass Davison ein Jahr zuvor in Russland Stanislawski begegnet und dessen neuen Schauspieltheorien erlegen war, seiner Überzeugung nach ließen das außerliterarische Material und die Details, die man hinzuerfand, die Figur lebendig werden und stützten den Text. Gern hätte Lysander eingewendet, dass Shakespeare es sicher in sein Stück hätte einfließen lassen, wenn Angelos potentiellle Reisen oder Hämorrhoiden von Belang wären. Um des lieben Friedens willen hatte er jedoch genickt und Dinge von sich gegeben wie »sehr treffend«, »interessanter Ansatz« und »ich behalte das mal im Hinterkopf«. Angelo war eine tragende Figur, und da wollte man den Regisseur lieber zum Verbündeten haben.
Eine von Davisons Anregungen lautete: »Es gibt da ein Buch, das dir vielleicht hilft, die Rolle anzulegen – Die Traumdeutung von Sigmund Freud. Hast du davon gehört?«
»Ich habe den Autor kennengelernt«, hatte Lysander entgegnet. Das stopfte Davison das Maul.
Bei der Erinnerung an diesen Nachmittag im Café Landtmann musste er lächeln. Davison hatte ihn mit ungewohntem Respekt angesehen. Vielleicht würden sie doch noch miteinander auskommen.
Am Leicester Square stieg Lysander aus und setzte seinen Strohhut auf. Er dachte daran, in ein Pub zu gehen, um seinen Durst mit einem erfrischenden Gemisch aus Bier und Limonade zu löschen und sich von der schweißtreibenden Hitze zu erholen. Als er die Station verließ, sog er die Luft ein – London im Juni, einem brütend heißen Juni, der die Pferdeäpfel zum Dampfen brachte.
Mit Greville Varley hatte er eine Wohnung in Chandos Place gemietet, dort gab es auch ein Pub, das er mochte, das Peace and Plenty an der Ecke William IV Street. Klein und schlicht, mit geschrubbten Holzdielen und Wandtäfelung, ohne den Ätzglas- und Samttapetenschnickschnack so vieler anderer Londoner Pubs. Greville wäre ohnehin noch nicht zu Hause, er hatte eine Nachmittagsvorstellung. Nein, am Freitag bestimmt nicht. Die Nachmittagsvorstellung wäre morgen.
»Tag, Mr Rief. Ist Ihnen warm genug?«
»Ja, danke, Molly, aber vielleicht könntest du morgen für ein bisschen Abkühlung sorgen? Ich fahre aufs Land.«
»Jedem das Seine, Mr Rief.«
Bardame Molly war die Nichte des Wirts und stammte aus Devon – oder war es Somerset? Ein kräftiges Mädchen mit Vollmondgesicht, das ihn an Traudl erinnerte.
Die zuvorkommende, stets errötende Traudl in der Pension Kriwanek, dachte Lysander, während er seinen Halbliterkrug zu einem Eckplatz trug, vor kurzem war das noch mein Leben, eines seiner vertrauten Bestandteile. Jemand hatte eine Zeitung liegen lassen, Lysander warf einen Blick auf die Schlagzeilen und legte sie sogleich wieder aus der Hand. Er interessierte sich nicht für die irische Selbstverwaltung oder einen drohenden Kohlestreik. Und wofür interessierst du dich dann?, fragte er sich harsch. Für dein Leben? Deine Arbeit? Deine Freunde? Deine Familie?
Gute Frage. Er nippte an seinem Bier, wägte seine Freuden und Nöte ab … Seit seiner überstürzten Rückkehr aus Wien hatte er seine alte Wohnung aufgegeben und mit Greville eine neue gefunden – das war schön. Er hatte eine Rolle in einem abendfüllenden Spielfilm ergattert und an zwei Arbeitstagen fünfzig Pfund verdient – nicht übel. Er hatte an vielen Vorsprechen teilgenommen und dieses traumhafte Doppelengagement bei der Internationalen Theatertruppe an Land gezogen – auch nicht zu verachten. Ach ja, Blanche hatte die Verlobung von sich aus gelöst.
Er lehnte sich zurück und setzte den Hut ab. Blanche …
Ihm war
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