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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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mögliche Schrecken?«
    »Der Junge ist mein Sohn, aber ich weiß nicht, wann und ob ich ihn überhaupt jemals zu Gesicht bekommen werde.«
    »Ist noch ein anderer Mann in die Sache verwickelt?«
    »Ja. Miss Bulls sogenannter Lebensgefährte. Ein unangenehmer Kerl, ein Maler namens Udo Hoff.«
    »Maler sind immer schwierig. Aber wenigstens stehst du in Kontakt mit Miss Bull. Wie heißt sie mit Vornamen?«
    »Esther.«
    »Klingt irgendwie religiös. Ist sie’s?«
    »Nicht im Geringsten. Sie wird Hettie gerufen.«
    »Hettie Bull. Wir hatten ein Zimmermädchen namens Hettie.«
    »Hettie Bull ist eine … sehr außergewöhnliche Frau. Ich war vollkommen … « Lysander verstummte kurz. »Sie hat mir sehr geholfen, und ich habe den Kopf verloren. Sie hat mich überwältigt. Wir haben uns gegenseitig überwältigt.«
    »Es war also sehr leidenschaftlich.«
    »Sehr.«
    »Und der kleine Lothar ist das Ergebnis.«
    Sie schwiegen eine Weile.
    »Hast du ein Foto von dieser Hettie Bull?«
    »Komischerweise nein. Ich bin so eilig abgereist. Ich habe nur das hier.«
    Lysander zog das Libretto von Andromeda und Perseus aus der Tasche und gab es seiner Mutter.
    »Das ist sie. Sie hat für Andromeda Modell gestanden.«
    »Ganz schön gewagt. Sie ist ja splitternackt. Hübsches Mädchen. Ist sie groß?«
    »Winzig klein. Eine richtige Kindfrau. Ein Wirbelwind.«
    Lysander kam plötzlich der Gedanke, dass das ein gutes Zeichen war, ein weiterer Beweis für den Erfolg seiner Wiener Therapie, wenn er mit seiner Mutter nun sogar über sexuelle Dinge sprechen konnte. Sie streckte die Hand aus und zupfte ihm Distelflaum vom Revers.
    »Ich dachte, dir gefallen große Frauen, so wie Blanche.«
    »Ja. Bis ich Hettie getroffen habe.«
    Sie warf wieder einen Blick auf den Librettoumschlag.
    »Kann ich mir das ausleihen? Hast du die Musik gehört? Der Komponist sagt mir nichts.«
    »Die Oper soll sehr modern sein. Ich habe sie allerdings nicht gehört. Du kannst das Libretto gern behalten.«
    »Lysander! Warum sagt uns keiner, dass du hier bist?«
    Aus dem großen umfriedeten Garten trat die hoch aufgeschossene Gestalt des ehrenwerten Hugh Faulkner. Er drehte sich um und rief durch die offene Gartentür: »Kommt her! Onkel Lysander ist hier!«
    Diese Ankündigung wurde mit entzücktem Gekreisch quittiert, und wenige Sekunden später rannten Emily und Charlotte über die Wiese auf sie zu.
    »Ich denke, wir sollten diese Neuigkeit vorerst für uns behalten«, sagte seine Mutter leise. »Vorsicht, Mädchen, nicht dass ihr hinfallt und eure bezaubernden Kleider schmutzig macht!«
    Crickmay Faulkner bot Lysander eine Zigarre an.
    »Du spielst in einem anrüchigen Stück mit, hat mir deine Mutter erzählt.«
    »Danke, ich nehme lieber eine Zigarette. Ja, es ist schwedisch, Fräulein Julie .«
    »Klingt verlockend. Ich hätte gern Premierenkarten für die erste Reihe.« Crickmay lächelte. »Bevor ich sterbe, will ich mich versündigen.«
    »Ich auch«, warf Hugh ein, der sich eine Zigarre anzündete. »Ich will mich auch versündigen. Du hast aber noch eine ganze Menge Jahre vor dir, Papa.« Er reichte die Portweinkaraffe an Lysander weiter. »Wovon handelt das Stück?«
    »Von einer reichen Adligen, die sich mit einem Diener einlässt.«
    »Großartig. Aber das werdet ihr nie und nimmer aufführen dürfen.«
    Sie lachten. Crickmay zog an seiner Zigarre, fing an zu husten und schlug sich auf die Brust.
    »Kein Wort zu deiner Mutter, sonst ist sie mir böse.«
    Inzwischen wirkte er tatsächlich wie ein alter Mann, dachte Lysander, sein Gesicht fiel zunehmend ein, unter den wässrigen Augen hatten sich dicke Tränensäcke gebildet. Der buschige weiße Schnurrbart musste dringend gestutzt werden.
    Die drei Männer trugen Smoking und saßen noch im Esszimmer beisammen, rauchten und tranken Portwein, während die Damen sich in den Salon zurückgezogen hatten. Lysander, bereits leicht angetrunken, schenkte sich nach. Das Gespräch mit seiner Mutter über Hettie und Lothar hatte ihn ermuntert, tiefer als beabsichtigt ins Glas zu schauen. Brandy mit Soda vor dem Abendessen, zum Lammbraten zu viel Bordeaux und nun Portwein. Er sollte lieber damit aufhören, wenn er am nächsten Tag nach Winchelsea wandern wollte.
    »Sollen wir den Damen Gesellschaft leisten?« Crickmay stand mühsam auf und humpelte hinaus.
    »Nimm den Portwein mit, Lysander«, sagte Hugh. »Gehst du morgen in die Kirche? Falls nicht, gehe ich auch nicht.«
    Lysander packte die

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