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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Doch ich nehme an, dass Du für mich nur noch Hass empfindest, nach allem, was ich Dir angetan habe. Statt meiner kannst Du Lothar, unseren kleinen Jungen, lieben. Bald schicke ich Dir ein Bild von ihm.
    Alles Liebe,
    Hettie und Lothar
    Lysander schloss die Augen, ihm liefen heiße Tränen über die Wangen. Hettie und Lothar. Ein paar Minuten lang heulte er wie ein Baby – wie Baby Lothar – , über den Tisch gebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann stand er auf und schenkte sich an der Hausbar einen Fingerbreit Cognac ein, den er auf Lothar Riefs Wohl erhob, ihm ein langes Leben und gute Gesundheit wünschend, ehe er das Glas leerte. Als er Greville die Wohnungstür aufschließen hörte, trocknete er sich die Augen, doch vergeblich. Kaum hatte Greville das Wohnzimmer betreten, sagte er: »Um Himmels willen, was ist mit dir los?«, und Lysander brach erneut in Tränen aus.

2. Sommerabend
    In Lewes nahm Lysander vom Bahnhof ein Taxi nach Claverleigh Hall. Als er durch das Tor in den Park trat, am Elisabethanischen Pförtnerhaus mit den verspielten Ziegelschornsteinen vorbei, hatte er ein Gefühl von Heimkehr, auch wenn er dieses Gefühl sogleich wieder hinterfragte, wie er das immer zu tun pflegte. Sein halbes Leben war er tatsächlich hier zu Hause gewesen – wenn man den Ort, an dem das verbliebene Elternteil wohnte, als »Zuhause« bezeichnen konnte. Zwar hatte er sein altes Zimmer über dem L-förmigen Küchenflügel behalten, der an der Rückseite angebaut worden war, als das Haus gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts im »italienischen Stil« umfassend neu gestaltet wurde – man hatte die Fassade stuckiert, einen Vorbau mit vier toskanischen Säulen errichtet – , aber das erste Heimatgefühl wich wieder einmal der Einsicht, dass er nur zu Besuch hier war. Es würde immer der Familiensitz der Faulkners sein, selbst ein langjähriger Stiefsohn, dessen Name nun mal Rief lautete, nahm sich dort wie eine Art Eindringling aus.
    Claverleigh Hall war von bescheidener Größe, ein zweistöckiges Herrenhaus mit nachträglich eingebauten Dachgauben. Es zeichnete sich vor allem durch seine – »repräsentative« – Haupttreppe aus, die sich von der Eingangshalle zu einer kleinen Kuppel im Soane’schen Stil emporschwang. Außerdem zog sich im ersten Stock ein Galeriesaal mit neun hohen Fenstern über die gesamte Längsseite des Hauses. Dort gab es zwei Kamine, und die Decke galt allgemein als überladen, lauter Girlanden und Schnecken aus Gips, aus den Ecken quollen Kränze, Blumen, Früchte und Putten. Dennoch war es ein behagliches Heim, das die Faulkners seit über hundert Jahren bewohnten, seit der zweite Baron es mit dem Vermögen gekauft hatte, das er einer klugen Investition in karibische Zuckerrohrplantagen verdankte.
    Die Tür wurde ihm von Marlowe geöffnet, Lord Faulkners Butler, der Lysander den Koffer abnahm und ihn zu seinem alten Zimmer geleitete.
    »Alles in Ordnung, Marlowe?«
    »Ja, Sir. Nur dass der Major heute Abend verhindert ist.«
    »Wie schade. Was ist denn passiert?«
    Der Major war sein Onkel – Major Hamo Rief, Träger des Victoriakreuzes, der nicht sonderlich berühmte Afrikaforscher.
    »Er ist unpässlich«, erklärte Marlowe, »offenbar ist es aber nichts Ernstes.«
    »Und wer wird beim Abendessen alles zugegen sein?«
    Marlowe zufolge würde das Essen im engsten Familienkreis stattfinden – Lord und Lady Faulkner, der ehrenwerte Hugh Faulkner (Crickmays Sohn) und seine Gemahlin May sowie die beiden »Töchterchen«. Die örtlichen Honoratioren, die Major Rief einen würdigen Empfang hatten bereiten wollen, waren auf den Zeitpunkt seiner Genesung vertröstet worden. Lysander entspannte sich. Er mochte seinen Stiefbruder Hugh. Ein hochgewachsener, umgänglicher Mann in den Vierzigern, dessen Haupthaar sich zu lichten begann und der doppelt so oft zu blinzeln schien wie jeder andere, dem Lysander begegnet war. Er wurde als bedeutendster Zahnarzt der Harley Street gerühmt. Gut möglich, dass das eine seltsame Berufswahl war für einen Mann, der eines Tages zum sechsten Baron Faulkner aufrücken würde, aber er konnte hervorragend davon leben und wurde aufgrund seines Rangs besonders gern von Vertretern der höchsten Londoner Kreise konsultiert. Seine Frau May war herzlich und dynamisch, und ihre beiden Töchter, Emily (zwölf) und Charlotte (zehn), lustig und kein bisschen verzogen.
    Also ein rein familiäres Abendessen – gut, dachte Lysander. Vielleicht würde er am

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