Eine große Zeit
Strecke oder die Endstation zu kennen.
Ich bin in ein anderes Hotel gezogen, von Bayswater nach South Kensington. Ich habe ein Schlafzimmer und einen kleinen Salon mit Kamin – sollte ich überhaupt ein Kaminfeuer benötigen. Die Tage werden spürbar wärmer, der Sommer bricht allmählich an.
Und auf einmal kommen mir – als unmittelbar Betroffenem – die Neuigkeiten von der Front äußerst wichtig vor. Ich ertappe mich dabei, das blutige, schleppende Ende der Schlacht von Festubert mit außergewöhnlichem Interesse zu verfolgen. Ich lese über den großen Sieg, den die britischen und Empire-Truppen (Inder und Kanadier waren ebenfalls beteiligt) errungen haben, doch selbst dem Uneingeweihten springen die negativen Aspekte und Einschränkungen der Schlachtberichterstattung ins Auge. »Grenzenlose Opferbereitschaft«, »sich wacker geschlagen«, »unaufhörlich dem feindlichen Feuer ausgesetzt« – diese abgedroschenen Wendungen sagen alles. Hier und da wird sogar fast unverhüllt Kritik geübt: »Es fehlte an schweren Geschützen.« Die Zahl der Gefallenen beträgt offiziell weit über zehntausend. Vielleicht mehr.
Mutter hat mir die Post nachgesandt. Zu meiner Überraschung ist auch ein Brief von Dr. Bensimon dabei, den ich hier einfüge:
Mein lieber Rief,
Ich hoffe, bei Ihnen steht alles zum Besten, in jeder Hinsicht. Sie sollten wissen, dass ich Wien mit meiner Familie verlassen habe, als sich herausstellte, dass der Krieg unausweichlich ist. Nun habe ich in London eine Praxis eröffnet, so dass Sie mich jederzeit aufsuchen können, falls Sie meinen professionellen Rat benötigen.
Ich würde mich jedenfalls über ein Wiedersehen freuen.
Meine Praxis befindet sich am Highgate Hill 117. Telefon: HD 7634.
Mit besten Grüßen, John Bensimon
PS: Die Ergebnisse unserer Wiener Therapiesitzungen von 1913 wurden in der aktuellen Frühjahrsausgabe des Bulletin für psychoanalytische Forschung veröffentlicht. Ihr Deckname lautet »Der Zirkusdirektor«.
Dieser Brief wärmt und rührt mein Herz. Ich habe Bensimon immer sehr geschätzt, aber ich wusste nie so recht, was er von mir hält. »Ich würde mich jedenfalls über ein Wiedersehen freuen.« Das scheint mir ein klares Signal zu sein, geradezu herzlich, eine ausdrückliche Aufforderung, mich bei ihm zu melden.
Unter der Woche gehe ich täglich, von Montag bis Freitag, zum Haus in Islington, um mich von Munro, Fyfe-Miller und, im zunehmenden Maße, Massinger instruieren zu lassen. Ich studiere Landkarten und mache mich im Keller mit einem detaillierten Sandmodell des bewussten Frontabschnitts vertraut. Zunächst dachte ich, es müsse sich um eine Operation des Kriegsministeriums handeln, aber nun habe ich den Verdacht, dass eine andere, geheime Regierungsdienststelle dahintersteckt. Es gab einen Tag, an dem Massinger sich mehrmals verplappert und einen gewissen »C« erwähnt hat. Ich habe gehört, wie er recht hitzig, ja verärgert zu Fyfe-Miller sagte: »Ich bin für die Schweiz zuständig, aber ›C‹ hält das für Zeitverschwendung. Er findet, wir sollten uns auf Holland konzentrieren. Wir zählen auf Rief, um ihm das Gegenteil zu beweisen.« Was zum Teufel soll das heißen? Wie soll ich eine solche Herausforderung meistern? Als sich die Gelegenheit dazu ergab, habe ich Fyfe-Miller gefragt, wer dieser »C« ist, aber er meinte nur: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, von wem Sie sprechen. Sie müssen sich verhört haben.«
Meine Identität als Schweizer Eisenbahningenieur nimmt rasch Gestalt an. Sie beruht wesentlich auf einem wirklichen Ingenieur – einem Mann, der sich wegen chronischer Zwölffingerdarmgeschwüre in einem belgischen Sanatorium aufhält. Während er halb ohnmächtig, leidend, mit stetig schwindender Hoffnung auf seiner Station liegt, haben wir uns heimlich, still und leise einen Großteil seiner persönlichen Daten geborgt. Mein Name ist Abelard Schwimmer. Ich bin ledig, meine Eltern sind tot, ich lebe in einem kleinen Dorf in der Nähe von Zürich. Heute habe ich meinen Pass gesehen – er wirkt täuschend echt und ist voller Stempel und Marken der Grenzen, die ich überquert habe, Frankreich, Belgien, Holland und Italien. Im französischen Thonon soll ich die Fähre nach Genf besteigen und mir dort ein mittelklassiges Hotel suchen. Der Agent, den ich kontaktieren soll, läuft unter dem Namen »Freudenfeuer«. Zirkusdirektor trifft auf Freudenfeuer. Bensimon würde darüber sicher lachen.
Heute Morgen hat Munro mich zu einem
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