Eine große Zeit
steifem Kragen sowie seine Regimentskrawatte. Die E.S.L.I. wäre stolz auf ihn.
Zuerst betrat Munro den Raum, ebenfalls in Anzug, und gab Lysander die Hand. Ihm folgte ein älterer Mann, der einen Gehrock trug – ganz altmodisch – und als Oberst Massinger vorgestellt wurde. Sein Gesicht war fahl und faltig, und er hatte eine krächzende Stimme, wie nach einer Kehlkopfentzündung. Die schütteren dunklen Haare waren mit reichlich glänzendem Öl an den Schädel geklatscht, die Zähne auffallend braun, als kaute er regelmäßig Tabak. Als Letzter trat Fyfe-Miller in Erscheinung, leutselig und dynamisch. Das gab Lysander zu denken. Den angebotenen Tee lehnte er dankend ab. Dabei stellte er fest, dass ihm tatsächlich ein wenig übel war – dieses Treffen hatte eher etwas von einem Tribunal an sich. Tee würde ihn möglicherweise würgen lassen.
Nach kurzem höflichem Geplänkel (»Wie war Ihr Urlaub?«) reichte ihm Massinger ein Blatt Papier, das mit Zahlenkolonnen beschrieben war. Für Lysander ergaben sie selbst nach eingehendem Studium keinen Sinn.
3
14
11
2
11
21
2
3
24
15
7
10
3
2
2
7
Und so weiter.
»Was sagen Sie dazu?«, fragte Munro.
»Ist das eine Art Code?«
»Sie haben es erfasst. In Genf arbeitet ein Agent für uns, in den letzten Monaten hat er sechs Briefe abgefangen, die solche Blätter enthielten.«
Ein »Agent«, dachte Lysander. »Abgefangen«? Worauf lief das Ganze hinaus – auf irgendeinen Spionageeinsatz im Auftrag des Kriegsministeriums?
»Er basiert ganz klassisch auf einem Geheimalphabet«, erklärte Munro. »Weil dieses Alphabet aber mithilfe eines Schlüsseltextes erzeugt wurde, der nur dem Sender und dem Empfänger bekannt ist, können wir es unmöglich knacken.«
»Verstehe.«
»Was wir nun von Ihnen erwarten«, schaltete sich Massinger ein, der es eilig zu haben schien, als müsste er gleich zum nächsten Termin weiterhasten, »ist, dass Sie nach Genf fahren und sich mit unserem Agenten treffen. Er wird Sie zu dem Mann führen, der die Geheimbotschaften empfängt.«
»Darf ich fragen, wer dieser Mann ist?«
»Ein deutscher Konsularbeamter.«
Lysander verspürte einen beinah unwiderstehlichen Lachdrang. Vielleicht hätte er doch eine Tasse Tee annehmen sollen. Er hätte gern an etwas genippt.
»Und dann?«
»Dann bringen Sie diesen Konsularbeamten dazu, Ihnen den Schlüssel zu geben, damit wir den Geheimtext dechiffrieren können.«
Lysander schwieg. Er nickte ein paarmal, als handelte es sich um ein durch und durch vernünftiges Ansinnen.
»Und wie soll ich ihn Ihrer Meinung nach ›dazu bringen‹?«
»Lassen Sie sich etwas einfallen«, warf Fyfe-Miller ein.
»Eine üppige Bestechungssumme dürfte sich als zielführend erweisen«, sagte Munro.
»Warum ich?«
»Weil Sie ein unbeschriebenes Blatt sind«, antwortete Oberst Massinger. »In Genf wimmelt es nur so von Spionen und Informanten, Agenten und Kurieren. Sie schwirren überall herum. Kein Engländer kann dort unbemerkt anreisen. Er wird umgehend registriert, überprüft und früher oder später enttarnt, egal, wie seine Legende lautet.«
Lysander war halbwegs sicher, dass ihm die Gesichtszüge nicht entgleist waren.
»Ich bin Engländer«, gab er zu bedenken. »Also wird es mir bestimmt nicht anders ergehen.«
»Doch.« Massinger deutete ein Lächeln an, das seine braun verfärbten Zähne entblößte. »Weil Sie nämlich gar nicht mehr existieren werden.«
»Nun hätte ich doch gern eine Tasse Tee.«
Fyfe-Miller ging den Tee bestellen, und als die Kanne eintraf, schenkten sie sich alle eine Tasse ein.
»Vielleicht habe ich mich eben eine Spur zu dramatisch ausgedrückt«, sagte Massinger, der unaufhörlich seinen Tee umrührte. Kling-kling-kling. »Man wird Sie als ›nach Kampfeinsatz vermisst‹ melden. Unterdessen fahren Sie unter neuer Identität nach Genf. Heimlich.«
»Sie werden die Identität eines Schweizer Eisenbahningenieurs annehmen«, führte Munro aus. »Somit wird Ihre Ankunft, Ihre ›Heimkehr‹ in die Schweiz keinerlei Aufsehen erregen. Vor Ort werden Sie unseren Agenten kontaktieren und weitere Anweisungen erhalten.«
»Darf ich vielleicht erfahren, worum es eigentlich geht?«
Munro sah Massinger an. Massinger hörte auf, in seinem Tee zu rühren.
»Das ist alles höchst kompliziert, Rief«, sagte Massinger.
»Ich weiß nicht, wie aufmerksam Sie die Kriegsnachrichten verfolgen, aber wir haben dieses Jahr mehrere Vorstöße – große Durchbruchsversuche – unternommen, in
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