Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
Vom Netzwerk:
dachte, er habe einen Nerv getroffen oder die Sonde tief in einen faulen Zahn versenkt.
    Ich war leichenblass, verschwitzt und völlig erstarrt.
    »Großer Gott, Hugh … Das hat entsetzlich weh getan.«
    »Tut mir wirklich leid. Ich habe bloß diese große Füllung berührt – im rechten zweiten Molar im Oberkiefer.«
    »Muss sie erneuert werden?«
    »Nein. Mit dem Zahn ist alles in Ordnung.« Hugh lachte leise vor sich hin. »Du hast nur einen elektrischen Schock abbekommen. Wenn zwei Metallteile aufeinandertreffen und der Speichel als Elektrolyt fungiert: Aua! Genau wie die Silberfolie bei der Schokolade. Du brichst dir ein Stück ab, an dem noch Folie klebt, fängst an zu kauen – und bekommst einen kleinen Elektroschock. Deinen Zähnen fehlt nichts.« Er trat einen Schritt zurück, fuhr sich durch die Haare und lächelte zerknirscht. »Genug gealbert. Ich stecke dir jetzt die Krone wieder auf.«
    ELEKTROLYT
    Als im Türrahmen dein Bild erschien,
    Traumgesicht wirbelnder Derwische,
    War mir, als berühre eine Sonde
    Blitzartig ungeahnte Schichten,
    Gleißender als jedes Edelmetall.
    Abends im Tal ballen sich
    Silbern die Nebelschleier.
    Ich greife nach ihnen und
    Schnüre daraus ein Bündel, das
    Dir zur Zierde gereichen soll.
    Ich sitze in meinem alten Zimmer in Claverleigh. Eben war ich bei Crickmay, um Abschied zu nehmen. Morgen reise ich ab – nach Frankreich. Crickmays Atmung hörte sich an wie eine alte Pumpe, die gurgelnd versucht, eine überflutete Grube zu leeren. Eine Mischung aus Luft und Wasser.
    Schnaufend brachte er ein »Wiedersehen« zustande und drückte mir die Hand.
    Mutter wartete im Flur, aufgewühlt, aber beherrscht.
    »Wie lange wirst du weg sein?«, fragte sie.
    »Das weiß ich noch nicht. Ein, zwei Monate, vielleicht länger.« Massinger hatte keine genauen Angaben gemacht. Die Dauer hing vom Fortgang der Operation und von Agent Freudenfeuer ab.
    »Er wird nicht mehr da sein, wenn du zurückkommst«, sagte sie tonlos.
    »Was willst du dann machen?«
    »Ich komme schon zurecht. Wenn es sein muss, kann ich mich auch vierundzwanzig Stunden am Tag um die Kriegshilfe kümmern. Ich weiß ohnehin nicht, was ich ohne sie getan hätte. Inzwischen beschäftigen wir sechs Angestellte im Büro von Lewes.«
    »Das ist großartig.« Ich küsste sie auf die Wange und sie nahm meine Hände. Dann trat sie einen Schritt zurück, um mich von Kopf bis Fuß in Augenschein zu nehmen.
    »Du siehst fantastisch aus in deiner Uniform«, sagte sie. »Dein Vater wäre sehr stolz auf dich gewesen.«
    Wenn ich daran denke, schießen mir auch jetzt Tränen in die Augen.

12. L’officier anglais
    Munro und Lysander nahmen ihr Mittagessen in Aire ein, etwa zwanzig Kilometer hinter der Front. Von der Tatsache abgesehen, dass sämtliche Restaurantgäste männlich waren und in Uniform steckten, hätten sie auch 1912 nicht genussvoller speisen und trinken können, dachte Lysander. Sie aßen einen köstlichen Coq au vin , tranken eine Karaffe Beaujolais, bekamen zwölf Käse zur Auswahl präsentiert und rundeten das Mahl mit einer Tarte tatin und einem Calvados ab.
    »Eine zünftige Henkersmahlzeit«, bemerkte Lysander.
    »Sosehr ich Ihren Galgenhumor schätze, Rief, ist er hier nicht angebracht. Sie gehen kein Risiko ein, zumindest kein nennenswertes. Dieser Frontabschnitt ist ausgesprochen ruhig – nur drei Tote im vergangenen Monat.«
    Munros beschönigende Worte trugen nicht gerade zu Lysanders Beschwichtigung bei: Tot ist tot. In diesem Monat gäbe es vielleicht nur ein Opfer – und das könnte er sein. Dennoch würden alle die zunehmende Ruhe dieses ruhigen Abschnitts bejubeln.
    Ein Militärwagen brachte sie in das Hinterland am äußersten südlichen Ende der britischen Linien, wo die erste Armee des britischen Expeditionskorps an die zehnte französische Armee grenzte. Sie durchquerten das Städtchen Béthune und bogen dann von der Hauptstraße ab, um über Feldwege zum Quartier des 2/10. Bataillons der Loyal Manchester Fusiliers zu fahren. Ein Knüppelweg führte sie schließlich zu einer von Apfelplantagen gesäumten Wiese, auf der reihenweise Rundzelte aufgeschlagen waren. In einer Ecke befand sich eine recht große Feldküche. Von einer benachbarten Weide hörte man Kampf- und Hochrufe sowie dumpfe Stöße von Leder auf Leder, die auf ein Fußballspiel hindeuteten.
    Als Lysander aus dem Wagen ausstieg, fühlte er sich wie ein Junge am ersten Schultag – aufgeregt, nervös und ängstlich. Man schickte Munro

Weitere Kostenlose Bücher