Eine große Zeit
Neuve Chapelle, Aubers und vor kurzem in Festubert. Die Niederlagen sind vielleicht noch einigermaßen zu verschmerzen, doch wir haben fast alle unsere Ziele eklatant verfehlt.« Er stellte die Tasse ab. »Offenbar wurden wir schon erwartet. Auf der anderen Seite gab es verstärkte Schützengräben, neu errichtete Schanzen, Reservetruppen für den Gegenangriff, zusätzliche Artillerie hinter den Unterstützungslinien. Geradezu unheimlich … Wir haben schwere, sehr schwere Verluste erlitten.«
Seine Stimme wurde immer leiser, und einen Augenblick lang wirkte Oberst Massinger bekümmert, fast verzweifelt.
Munro übernahm das Ruder.
»Offen gesagt sind wir der Meinung, dass es in unserem Führungsstab einen … « Er verstummte, als wüsste er nicht weiter. »Nein, man kann es nicht anders ausdrücken – einen Verräter gibt. Der den Feind über geplante Angriffe informiert.«
»Und Sie halten diese chiffrierten Texte für einen Beweis«, sagte Lysander.
»Genau.« Fyfe-Miller beugte sich vor. »Sobald wir den Code entschlüsseln können, wissen wir, wer der Verräter ist. Das ist die gute Nachricht.«
Fyfe-Miller sah ihn mit seinem eigentümlich freundlich-aggressiven Blick durchdringend an. Lysander bekam einen trockenen Mund, während seine linke Wade zu zucken begann. Fyfe-Miller lächelte ihn an.
»Wir wissen, wozu Sie imstande sind, Rief – haben Sie das etwa vergessen? In Wien haben wir mit eigenen Augen gesehen, wie geschickt Sie sich aus der Affäre gezogen haben. Darum haben wir an Sie gedacht. Sie sprechen hervorragend Deutsch, niemand kennt Sie, niemand rechnet mit Ihnen. Sie sind intelligent und können blitzschnell reagieren.«
»Da werde ich mich wohl freiwillig melden müssen.«
Munro hob beschwichtigend die Hände.
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl«, sagte er. »Als sich freiwillig zu melden.«
Lysander atmete auf. In gewisser Hinsicht war es besser, derart in die Ecke getrieben als nur freundlich gebeten zu werden.
»Wir haben ja noch gar nicht über die Summe gesprochen, die Sie seit diesem Vorfall in Wien der Regierung Seiner Majestät schulden«, sagte Massinger. »So viel ich weiß, beläuft sie sich inzwischen auf über 1000 Pfund.«
»Mit dieser Mission wären Ihre Schulden vollständig getilgt«, fügte Munro hinzu. »Als Entschädigung für die recht ungewöhnliche Aufgabe, die Sie in unserem Auftrag erfüllen sollen.«
»Tausch ist kein Raub«, sagte Fyfe-Miller.
Lysander nickte, als wüsste er genau, was gemeint war. Dabei musste er ständig an Hamos Worte denken: Jeder Idiot kann Befehle befolgen – es kommt darauf an, wie man sie interpretiert.
»Das ist auf jeden Fall ein Anreiz«, antwortete Lysander, bemerkenswert gelassen, wie er fand. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
Alle lächelten. Es wurde eine frische Kanne Tee bestellt.
11. Autobiographische Untersuchungen
Danach wurde ich von Fyfe-Miller in ein Schlafzimmer hinaufgeleitet. Auf dem Bett lag ein Koffer, den er schwungvoll aufklappte.
»Das ist Ihre neue Uniform. Sie sind jetzt Leutnant, mit entsprechendem Sold, und gehören dem Generalstab an. Wir werden Sie an die Front führen – wir haben uns bemüht, die bestmögliche Stelle zu finden – , dann können Sie einfach eines Nachts auf Patrouille gehen … « Hier hielt er inne und lächelte. »Schauen Sie doch nicht so besorgt drein, Rief. Sie werden im Vorfeld unzählige Instruktionen bekommen. Dann kennen Sie den Plan besser als Ihre eigene Familiengeschichte. Wollen Sie die Uniform nicht anprobieren?«
Er ging aus dem Zimmer, solange ich mich auszog und in meine neue Uniform mit rotem Kragenspiegel schlüpfte. Sie passte wie angegossen, und das sagte ich Fyfe-Miller auch.
»Ihr Schneider, Jobling, war uns eine große Hilfe.« Er sah mich mit seinem leicht manischen Grinsen an. »Der geborene Offizier, Rief. Sehr fesch.«
Wieder einmal frage ich mich, welche Ränke sich hinter den Kulissen abgespielt haben. Woher wussten sie von Jobling? Ihn ausfindig zu machen war wohl nicht so schwer. Ich denke über diese drei Männer nach, über den Einfluss, den sie neuerdings auf mich und mein Schicksal ausüben: Munro, Fyfe-Miller und Massinger. Zwei, die ich ein wenig kenne, und ein Unbekannter. Wer führt hier Regie? Massinger? Falls ja, wem ist er Rechenschaft schuldig? Ist Fyfe-Miller den beiden anderen unterstellt? Fragen über Fragen. Mein Leben verläuft jetzt auf einer völlig fremden Bahn – als säße ich in einem fahrenden Zug, ohne die
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