Eine Hand voll Asche
Leenas Gestalt über die Jahrzehnte sehr gut konserviert hatte. Mitten in den Ermittlungen zum Mord an Leena war jemand in mein Büro eingebrochen und hatte die Schachtel gestohlen. Dieser Jemand war Garland Hamilton gewesen.
Ich wies auf meinen Schreibtisch, und Morgan stellte die Schachtel ab. Ich hob den Deckel hoch, der an einer der Dreißig-Zentimeter-Seiten befestigt war. In der Schachtel lagen die Knochen einer jungen weißen Frau, und auf jedem Knochen stand in meiner Handschrift die Fallnummer. Zwei Teile des Skeletts fehlten, wie ich wusste: der Schädel und das Zungenbein, die ich beide an dem Tag, an dem die Schachtel gestohlen worden war, mit in die Vorlesung genommen hatte, um sie meinen Studierenden zu zeigen. Den Schädel der Frau – Leenas Schädel – und das gebrochene Zungenbein aus ihrer Kehle hatte Jim O’Conner vor acht Monaten oben im Cooke County beigesetzt. O’Conner war jetzt Sheriff dort, doch vor dreißig Jahren war er nur ein junger Mann gewesen, der Leena geliebt hatte, als sie noch ein unschuldiges junges Mädchen gewesen war. Bevor ihr Onkel sie sexuell missbraucht und ihre Tante sie erwürgt hatte.
Die Knochen versetzten mich in der Zeit zurück, so wie der Duft von frischgebackenem Brot oder frischgemähtem Gras einen in die Kindheit zurückversetzen kann. Für mich war der Blick auf ein Skelett wie die Lektüre eines Tagebuchs – eines Tagebuchs, in dem Verletzungen, Krankheiten, Händigkeit und unzählige andere Dinge über das Leben verzeichnet waren, die lange nach dem Tod in die Knochen eingeschrieben blieben. In dem Raum neben meinem Büro hatte ich eine ganze Bibliothek voll mit solchen Tagebüchern – Tagebücher über Leben und Sterben. Jedes war einzigartig faszinierend, und ich erinnerte mich stets an die Einzelheiten. Jedes war auch einzigartig traurig – Leenas ganz besonders. Ich schüttelte die Erinnerungen ab und schaute Morgan an.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nur gerade eine kurze Reise in einen dunklen Teil der Vergangenheit unternommen.«
Er nickte. »Das verstehe ich«, sagte er. »Lassen Sie sich Zeit.«
»Ich bin fertig«, sagte ich. »Sie haben erwähnt, dass Sie Garland Hamiltons Kreditkartenabrechnungen überprüfen. Irgendein Hinweis auf seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort?«
»Nein«, sagte er. »Den Lagerraum hat er vor ungefähr sechs Monaten angemietet und im Voraus für ein Jahr bezahlt. Die letzte Aktivität«, er zögerte, »war zwei Stunden nach seiner Flucht. Eine Überwachungskamera an einem Geldautomaten einer Filiale der Sun Trust Bank in der Hill Avenue zeigt ihn, wie er Geld abhebt. Er hat die Kreditkarte mit vierhundert Dollar belastet und noch mal vierhundert Dollar vom Girokonto abgehoben. Mehr hat der Automat nicht ausgespuckt.«
»Woher hatte er die Karten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Morgan. »Im Gefängnis hatte er sie nicht, also muss er sie an einem sicheren und gut erreichbaren Ort versteckt gehabt haben. Vielleicht in dem Lagerraum.«
»Wurden seine Konten nicht eingefroren?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Wenn er den internationalen Terrorismus finanzieren oder Millionen unterschlagen würde, könnte die Bundespolizei seine Konten sperren. Ansonsten gibt es dafür keine rechtliche Handhabe. Mit achthundert Dollar kommt er nicht besonders weit, aber er kann den Radar wenigstens für eine Weile unterfliegen.«
»Irgendeine Idee, wo er sein könnte? Glauben Sie, er bleibt hier, oder glauben Sie, er ist auf der Flucht?«
Morgan runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen. Typischerweise hauen entflohene Mörder ab, aber er ist nicht typisch. Er ist klüger als die meisten, und er weiß, wie die Polizei tickt.«
»Dann ist er vielleicht doch abgehauen«, sagte ich, »weil er sich denkt, dass Sie es nicht von ihm erwarten.«
»Zum Teufel, auf diese Art und Weise kann man sich mit Spekulationen und Vermutungen im Kreis drehen wie eine Katze, die den eigenen Schwanz jagt. Bringt aber nichts, außer dass man ganz schwindlig wird. Sein Bild ist überall in den Medien, und wir haben einen Fahndungsaufruf an sämtliche Polizeistationen und Sheriffbüros im ganzen Land geschickt. Wir kriegen ihn.«
»Lieber früher als später«, sagte ich.
»Früher«, sagte er. »Inzwischen habe ich jedoch nachgedacht … Haben Sie je überlegt, sich eine Waffe zuzulegen?«
»Ich? Eine Waffe? Wenn ich irgendwo an einem Leichenfundort arbeite, bin ich normalerweise auf allen vieren, und mein Hintern ragt in die Luft.« Die
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