Eine Hand voll Asche
ungeduldig, denn mein Magen begann zu knurren, und allmählich taten mir die Füße weh. Ich riss den Reißverschluss auf, warf einen schnellen, sortierenden Blick unter die Klappe und zog den Reißverschluss ungeduldig wieder zu.
Ich war mit der ersten Seite des zweiten Hängers halbwegs durch – des Hängers, auf dessen Türen groß und schwarz 4-F gemalt war –, als ich mitten in der reflexartigen Bewegung, den Reißverschluss des Leichensacks wieder zuzuziehen, erstarrte. Das Kleid, das ich gesehen hatte, war in der Mitte fast schwarz, doch am Rand meines Gesichtsfelds hatte mein Gehirn wahrgenommen, dass die dunkle Farbe nur auf Brust und Ausschnitt beschränkt war. An den Ärmeln war zwischen den dunklen Flecken noch so viel von der ursprünglichen Farbe zu sehen, um zu erkennen, dass der Stoff selbst mittel- bis hellblau war – oder einst gewesen war, als eine Farmersfrau das Kleid zum Gottesdienst in einer mit weißen Holzschindeln verkleideten Kirche getragen hatte. Einer Kirche, wo man nach dem Sonntagsgottesdienst gemeinsam zu Mittag aß. Dazu brachte jeder etwas mit, und die besten Köchinnen der Welt – Südstaatenköchinnen – lagen freundlich, aber hart miteinander im Wettstreit: Am Ende gewann diejenige, deren Schüssel mit gebackenen Bohnen, Backhähnchen oder Pfirsichauflauf zuerst leer oder am saubersten ausgekratzt war und von den Nachzüglern nur noch mit traurigen Blicken beäugt werden konnte.
Ich streifte den rechten Handschuh ab und zog meinen Overall ein Stück auf, schob die Hand in den Halsausschnitt meines Pullovers und angelte das Foto aus meiner Hemdtasche. Es zeigte eine blau gekleidete, weißhaarige Frau in den Siebzigern. Sie hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, wahrscheinlich eine Urenkelin. Sie hatte freundliche Augen und ein breites Lächeln. Und es fehlte ein großes Stück ihres linken oberen seitlichen Schneidezahns. »Ihr Kuchen-Unfall«, hatte Burt gesagt, als er mich darauf hingewiesen hatte.
»Kuchen-Unfall?«
»Kuchen-Unfall. Meine Tante Jean liebte Kuchen«, sagte er. »Gütiger Himmel, Doc, diese Frau konnte einen halben Kuchen in einem Rutsch wegputzen und noch nach der anderen Hälfte verlangen. Ein Wunder, dass sie nicht zweihundert Kilo gewogen hat. Wie auch immer, vor Jahren – ich war damals noch ein Kind – aß sie ein Stück Kirschkuchen, und da hat sie auf einen Kirschkern gebissen und sich ein Stück Zahn abgebrochen. Sie hätte sich eine Krone machen lassen können, aber ich glaube, ihr gefiel es, so im Mittelpunkt zu stehen. Die kleinen Kinder in der Familie wollten immer wieder von ihr die Kirschkuchengeschichte hören. Jedes Mal, wenn sie die Geschichte zum Besten gab, wurde der Kirschkern größer und fester. Ich schwöre, als sie starb, war er so groß wie Mount Rushmore und so hart wie der Hope-Diamant.« Beim Erzählen dieser Geschichte hörte ich in Burt DeVriess’ Stimme etwas, was ich noch nie gehört hatte – Wärme und Offenheit und Unschuld und vielleicht sogar Liebe. Witzig, dass die Kirschkuchengeschichte einer Verstorbenen die harte Schale, die in Jahren voller Zynismus und brutaler Schlachten im Gerichtssaal gewachsen war, durchdringen und etwas anderes an die Oberfläche bringen konnte.
»Okay, Nummer neunundneunzig«, sagte ich zu der verwesten Leiche in dem Regalfach, »werfen wir doch mal einen Blick auf deinen linken oberen seitlichen Schneidezahn.« Ich beugte mich darüber – die Leiche ruhte im zweituntersten Fach, also etwa in Hüfthöhe –, um die Zähne in Augenschein zu nehmen. Der Kopf lag im Schatten, teils von dem Regalbrett darüber, teils von mir, was es mir erschwerte, die Konturen der Zähne zu erkennen, also nahm ich die Hand zu Hilfe und fuhr mit der Spitze des linken Zeigefingers über die Zahnreihe im Oberkiefer. Dort, wo die Kante des Schneidezahns hätte sein sollen, ertastete ich stattdessen eine sechs Millimeter breite Kerbe. Ich holte noch einmal meinen Schlüsselbund heraus und richtete den Strahl der winzigen LED-Leuchte auf die Zähne. Die Kanten waren durch jahrelanges Kauen abgenutzt, doch der halbe Zahn war abgebrochen. Das konnte nur Tante Jean sein, doch ich wollte ganz sichergehen. Also zog ich den Leichensack bis unten auf und schlug die ganze C-förmige Klappe zur Seite, die die Oberseite des Leichensacks bildete. Ich drückte noch einmal auf die winzige Taschenlampe und ließ den schwachen Strahl vom Gesicht hinunter über das Wrack des Brustkorbs, über den eingefallenen Bauch und die
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