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Eine Hexe in Nevermore

Eine Hexe in Nevermore

Titel: Eine Hexe in Nevermore Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Bardsley
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schmalen dunklen Korridor mit Wandpaneelen und verstaubten Fotos des Cafés aus der Zeit der Eröffnung im Jahr achtzehnhundertfünfundvierzig. Es war eines der ersten Geschäfte gewesen, das die Weltlichen eröffnet hatten. Gray erinnerte sich gern an den Vorbesitzer, Cathleens Schwiegervater Wilber Munch. Sein Sohn Leland war ein netter Typ gewesen, nur ein bisschen zu schwach für die Launen der Frauen.
    Die Türen zu den Damen- und Herrentoiletten gingen zu beiden Seiten des Gangs ab. Am Ende des Flurs befand sich eine schwarze Metalltür, über der ein großes rotes »Ausgang« -Schild prangte. Das war vermutlich der Notausgang, sicher nicht vorschriftsmäßig in Ordnung, denn Cathleen kümmerte sich nicht um solche Dinge.
    Gray stieß die schwere Tür auf. Augenblicklich bekam er keine Luft mehr, so sehr stank es nach den Mülltonnen. Liebe Güte! Als er das letzte Mal in der Stadt gewesen war, hatte es noch eine Müllabfuhr gegeben. Er beeilte sich, nach draußen zu kommen, und sah sich dann nach Marcy um. Dabei fiel ihm auf, dass sich der Abfall aus den beiden Mülltonnen in die kleine Gasse ergoss.
    Gray ließ die stinkende Gasse hinter sich und ging vor bis zur Straße. Da entdeckte er Marcy. Sie trug ein auffälliges hellgelbes Kleid und hockte in einer Ecke unter einem Vorsprung, der ihr etwas Schutz vor dem peitschenden Regen bot. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.
    »Marcy?«, sprach er sie vorsichtig an.
    Erschrocken sah sie auf, schluchzend. Links hatte sie ein blaues Auge. Es war frisch, so wie ihre blutige Lippe. Wut machte Grays bisheriger Gleichgültigkeit Platz. Wie konnte es ihm egal sein, dass die ganze Stadt vor die Hunde ging?
    »Was ist passiert?«
    »G … gar nichts. Ich … bin gegen eine Tür gelaufen.«
    »Entweder sagst du mir jetzt, was passiert ist«, sagte er leise, »oder ich belege das gesamte Café mit einem Wahrheitszauber, damit ich weiß, was los ist. Vor mir kann man keine Geheimnisse haben.«
    »Hüter. Bitte.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht sagen.«
    »Du kannst mir vertrauen, Marcy.«
    Mit aufgerissenen Augen starrte sie Gray an und öffnete den Mund. Dann erschauerte Marcy und schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte sie mehr Angst vor der Person, die sie geschlagen hatte, als vor ihm. Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass die ganze Stadt das Vertrauen in ihn verloren haben musste. Er erinnerte sich nicht einmal daran, wann das letzte Mal jemand freiwillig mit seinen Problemen zu ihm gekommen war. Vielleicht war er auch deshalb davon ausgegangen, dass alles in Ordnung war.
    Doch wahrscheinlich war es genau andersrum: Es war niemand zu ihm gekommen, weil alle glaubten, es sei ihm ohnehin egal. Das wiederum hatte er sich selbst zuzuschreiben, weil er immer nur diese oberflächliche Magie benutzt hatte und sich selbst nur an Feiertagen in der Stadt zeigte. Einmal im Jahr unternahm er die Reise nach Dallas, um im Hauptquartier der Drachen die Loyalität der Stadt Nevermore zum Haus zu erneuern. Sonst hatte er nichts mit Nevermore zu tun, mischte sich nie unter die Leute und versuchte auch nicht, mehr zu sein als der Hüter, der in seinem großen Haus auf dem Hügel lebte.
    Ich bin nicht einfach ein Arschloch. Ich bin das größte Arschloch auf diesem Planeten.
    Wenn Lucy nicht aufgetaucht wäre und ihm ein schlechtes Gewissen verursacht hätte, wäre er auch jetzt nicht hier. Dann wüsste er nichts von Marcys Sorgen oder darüber, in welchem Zustand sich das Café befand. Er wusste nicht, ob er der Hexe dafür dankbar sein oder sie noch mehr hassen sollte. Marcys junges bleiches Gesicht war so bemitleidenswert, dass Gray beschloss, Lucy dankbar zu sein. Sie hatte seine Hilfe verdient.
    Aber heiraten würde er sie nicht.
    »Sag mir, wer dir wehgetan hat, Marcy.« Am liebsten hätte er sie gestreichelt, aber er wollte sie nicht erschrecken. Stattdessen sah er ihr in die Augen, ohne den Blick abzuwenden. Tränen liefen ihre Wangen herunter, und ihr Mund begann zu zittern.
    »Was werden Sie ihm tun, wenn ich es Ihnen verrate?«
    Ihn töten. Ihn verstümmeln. Ihm die Eier abreißen. »Du kennst die Regeln, Marcy. Der Hüter hat das Recht zur Bestrafung all derer, die innerhalb der Stadt gegen die Regeln verstoßen.«
    »A … aber Sie hören sich vorher beide Seiten an?«
    Er nickte. Das gehörte dazu.
    »Ich liebe ihn«, flüsterte sie. Sie sah Gray mit unruhigem Blick an. »Wie kann man jemanden lieben, der so schlimme Dinge

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