Eine hinreißende Schwindlerin
Sie heiraten sollten. Sagen Sie mir, wie stellen Sie sich Ihre zukünftige Braut vor?“
Ned antwortete, ohne zu zögern. „Nun, genau wie Sie! Nur jünger.“
Jenny schluckte peinlich berührt. „Wie meinen Sie das? Ist sie klug? Geistreich?“
Er kratzte sich verwirrt am Kinn. „Nein. Ich meinte eher, verlässlich und aufrichtig.“
Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß sie, geheimnisvoll zu lächeln, und sah ihn teils geschmeichelt, teils entsetzt an. Wenn es so um Neds Menschenkenntnis bestellt war, würde er mit einer Straßendiebin verheiratet sein, noch ehe er sich’s versah!
Lord Blakelys Hand hielt mitten im Schreiben inne. Ohne Zweifel hegte er ähnliche Gedanken.
„Was ist?“, wollte Ned wissen. „Warum starrt ihr mich so an?“
„Ich“, sagte Lord Blakely, „bin verlässlich. Sie hingegen …“
„Du“, fiel Ned ihm ins Wort, „bist kalt und berechnend. Ich kenne Madame Esmeralda nun schon ganze zwei Jahre, und in dieser Zeit ist sie für mich wie ein Familienmitglied geworden, mehr als jeder andere. Also wage es nicht, in diesem Ton über sie zu sprechen.“
Jenny stiegen die Tränen in die Augen. Sie hatte keine Erfahrung damit, was es bedeutete, eine Familie zu haben; das Einzige, woran sie sich erinnerte, war die gnadenlose Schule, die ein unbekannter Wohltäter für sie bezahlt hatte. Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte sie gewusst, dass sie ganz allein auf der Welt war. Das hatte sie auch dazu gebracht, als Wahrsagerin anzufangen – die absolute Gewissheit, dass ihr niemand helfen und jeder sie belügen würde. Die Welt ebenfalls zu belügen, war ihr da nur wie eine ausgleichende Gerechtigkeit vorgekommen.
Neds Worte jedoch erfüllten sie mit einer stillen Traurigkeit. Familie schien das genaue Gegenteil von ihrem einsamen Leben zu sein, in dem sie sogar ihre Freunde durch Unwahrheiten gewonnen hatte.
Ned war noch nicht fertig mit seinem Cousin. „Für dich bin ich nur ein Werkzeug, das man benutzt, wenn es einem gelegen kommt. Nun, ich bin es leid. Such dir selbst eine Frau und setze eigene Erben in die Welt. Ich mache keinen Finger mehr für dich krumm.“
Jenny kämpfte erneut mit den Tränen und sah Ned an. Seine vertrauten, jungenhaften Gesichtszüge waren wie versteinert, aber sie wusste, dass sich hinter seinem Mut Angst vor seinem Cousin verbarg. Trotzdem hatte er dem Mann die Stirn geboten. Ihretwegen.
Sie war nicht Neds Familie. Im Grunde war sie nicht einmal seine Freundin. Ganz gleich, was sie miteinander verband, war sie immer noch die Betrügerin, die ihm für ein paar erfundene Binsenwahrheiten Geld abgenommen hatte. Und jetzt bat er sie um ein paar weitere Lügen.
Also gut. Jenny verdrängte angestrengt ihren Anflug von Bedauern. Wenn Lug und Trug alles waren, worauf sie sich verstand, dann würde sie eben darauf zurückgreifen. Aber sie hatte Ned nicht das Leben gerettet, um seinem Cousin einen Gefallen zu tun.
Lord Blakely straffte sich. Seine wütende Miene – der kalte, unnachgiebige Zug um seinen Mund – verriet, dass er Ned tatsächlich nur für ein Werkzeug hielt, dass er sich allen hier Anwesenden an Intelligenz und Abstammung überlegen fühlte und dass er das ihren dumpfen Gehirnen schon beibringen würde. Er hielt sich also für etwas Besseres als Ned? Nun, sie würde dafür sorgen, dass der Marquess noch bereute, jemals um genauere Einzelheiten gebeten zu haben.
„Ned, Sie haben neulich eine Einladung zu einem Ball erhalten, nicht wahr?“
Er runzelte die Stirn. „In der Tat, das habe ich.“
„Was für ein Ball ist das?“
„Irgend so eine alberne Debütantinnengeschichte, glaube ich. Ich habe nicht vor, dort hinzugehen.“
Dieser Anlass klang vielversprechend, bestimmt würden viele junge Damen anwesend sein. Jenny glaubte bereits, den süßen Geschmack der Rache auf ihrer Zunge zu spüren. „Sie werden zu diesem Ball gehen“, verkündete sie und breitete die Arme in einer Geste aus, die beide Männer einschloss. „Sie werden beide dort hingehen.“
Lord Blakely machte ein überraschtes Gesicht.
„Ich kann Neds zukünftige Frau in der Apfelsine nicht erkennen. Aber um genau zehn Uhr neununddreißig werden Sie , Lord Blakely, die Frau sehen, die Sie heiraten werden. Und Sie werden sie heiraten, wenn Sie sich ihr so nähern, wie ich es Ihnen sage.“
Das Kratzen von Lord Blakelys Bleistift war das Einzige, was in der eintretenden Stille zu hören war. Schließlich legte er das Schreibwerkzeug ruhig zur
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