Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
stärker isoliert als Carl«, sagte sie. »Wir lebten hier, in diesem Haus, so weit weg vom Ort. Es war, als existierte ich nur für ihn. Ich arbeitete für ihn. Er war alles für mich.«
Es fiel Harrison schwer, sich diese Frau vorzustellen, die sie gerade beschrieben hatte; diese Frau, für die Carl Laski alles war. Aber wenn er an die junge Nora dachte, das Mädchen, das in Stephen Otis’ Schatten gelebt hatte, konnte er vielleicht glauben, daß sie es sich hatte gefallen lassen, ihre Ziele denen eines anderen unterzuordnen.
»Es gab immer Gerede von anderen Frauen«, sagte Nora. »Aber das basierte auf den Gedichten. In der Phantasie war Carl mir jeden Tag untreu. Ich konnte es nachlesen. Wenn er eine Huldigung an irgendeine Frau schrieb, hatte ich meistens gleich einen Verdacht, aber es waren immer so viele Ähnlichkeiten zu mir oder einer der Frauen vor mir da, daß ich nie absolut sicher sein konnte.«
Harrison zuckte zusammen bei der Vorstellung, wie Nora über Laskis Gedichten saß und nach Hinweisen auf seine imaginäre Untreue suchte.
»Aber ich merkte es«, fuhr sie fort, »auf diese ganz banale, alltägliche Art, wie Frauen so etwas eben merken. Carl war auch sexuell unersättlich – ich weiß, du willst das nicht hören –, und immer war da zuerst ein leichter Abfall, dem ein erhöhtes Interesse am Sex folgte. Es wurde zu einem Muster. Ich konnte es spüren. In der Phantasie hatte er viele Affären. Das ist wahrscheinlich bei allen Männern so. Nur war es in seinem Fall so, daß er seine Phantasien niederschrieb und ich sie tippte.«
Sie holte tief Atem.
»Es ist merkwürdig, aber ich habe nie daran gedacht, mich von ihm zu trennen«, sagte sie. »Ich hatte ihn geheiratet, und wir lebten isoliert. Ihn zu verlassen war nie eine Alternative. Wohin hätte ich gehen sollen? Und mit wem?«
Du hättest mich suchen können , dachte Harrison.
»Eines Tages kam Carl mit einer jungen Frau nach Hause«, sagte Nora. »Sie war neunzehn Jahre alt, blond und überhaupt nicht das, was man sich unter einer Studentin vorstellt. Carl nannte sie eine ›Stadtpflanze‹. Er fand sie faszinierend. Ihren Akzent. Ihre schlechten Zähne. Sie war anders als alle Frauen, die er bisher gekannt hatte. Ein junges Mädchen mit einem Stipendium. Brillant, behauptete Carl. Aber roh und ungeschliffen. Sie hatte fürchterliche Tischmanieren. Ich glaubte immer, sie kokettiere mit diesem Image – das Mädchen aus der Arbeiterklasse, das es geschafft hat – und die gräßlichen Tischmanieren gehörten zu ihrer Nummer.«
Harrison war erstaunt über die scheinbare Gelassenheit, mit der Nora ihre Geschichte erzählte. Keine Tränen. Kein Zaudern.
»Wenn ich sage, er kam mit ihr nach Hause«, erklärte Nora, »dann meine ich damit, daß er sie für länger mitbrachte. Er sagte, es wäre nur vorübergehend, sie wisse nicht, wohin. Das Stipendium decke nur die Studiengebühren. Sie habe bisher mal in ihrem Auto gelebt, mal bei Freunden. So verdreckt, wie sie war, glaubte ich ihm das sogar. Wir hätten so viele Zimmer, meinte er, daß wir ihr doch bestimmt eins geben könnten, bis sie festen Boden unter den Füßen hätte. Er stellte das alles so menschlich dar, daß ich nicht ablehnen konnte.«
Nora wandte sich Harrison zu.
»So funktioniert das, verstehst du«, sagte sie. »Schrittweise. Anfangs hat man so hohe Erwartungen. Dann beginnt das Leben, diese Erwartungen in kleinen Schritten zu demontieren, naiv oder albern aussehen zu lassen. Du erkennst, daß die Ehe nicht das sein wird, was du dir vorgestellt hattest. Daß sich Verzauberung bestenfalls ab und zu mal einstellt. Daß der Mann, den du in so jungen Jahren geheiratet hast, vielleicht ein schwieriger Mensch ist. Daß Hoffnungen auf ständige Intimität bürgerlich sind, um ein Wort zu gebrauchen, für das Carl eine Vorliebe hatte.«
Nora begann an einem Fingernagel zu knabbern.
»Manchmal habe ich sie gehört, wenn sie miteinander geschlafen haben«, sagte sie. »Die Wände waren dünn, ich konnte sie sogar vom anderen Ende des Flurs hören.«
Das Bild erschütterte Harrison. Nora allein in ihrem Bett. Die erste Frau, die anhört, wie der Ehemann die zweite aufsucht.
»Das gehört zu den Dingen, auf die ich bei der Renovierung nach Carls Tod besonders geachtet habe«, setzte sie hinzu. »Ich habe Wände mauern lassen, die möglichst schalldicht sind.«
Das stimmte. Harrison hatte in seinem Zimmer kaum einen Laut von außen gehört.
»Carl hatte mir nicht gesagt,
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