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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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eine von vielen – von sehr vielen, sagte er. Daß er mich geheiratet habe, an mir hängengeblieben sei, sage im Grunde mehr über mich aus als über ihn. Ich hätte keinen eigenen Charakter. Ich sei ein Nichts. Eine Null. Er hat jede schöne Erinnerung, die ich an uns beide hatte, in den Dreck gezogen.«
    Harrison wollte sie trösten, und er wollte sie schütteln. Wie hatte sie so willfährig sein können?
    »Nachdem ich erfahren hatte, daß Carl krank war, konnte ich ihn doch nicht mehr verlassen«, sagte Nora. »Nein, ausgeschlossen. Vielleicht war ich froh, daß das Ende unserer mißratenen Ehe abzusehen war. Und vielleicht spürte Carl das, denn als die Tage vergingen und er langsam erkannte, daß alle Chemo- und Strahlentherapie nicht halfen, wurde er wütend. Er geriet in eine unglaubliche Wut.« Nora hielt einen Moment inne. »Wie schnell Liebe in Haß umschlagen kann«, fügte sie hinzu.
    »Nora«, sagte Harrison.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als er starb. Wie dankbar ich war, daß er es selbst geregelt hatte.«
    Die Stille im Zimmer dehnte sich zu Minuten.
    »Nach der Beerdigung habe ich Judy gesucht«, erzählte Nora. »Ich glaube, ich hatte die Idee, das Kind zu mir zu nehmen und es großzuziehen. Aber sie hatte es – es war ein Junge – in ein katholisches Heim gegeben.«
    Endlich konnte Harrison angestrengt unterdrückte Tränen hören.
    Nora holte tief Atem und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Das wirklich Tragische war für sie also der Verlust des Kindes gewesen.
    »Und da kam ich auf den Gedanken mit dem Gasthof«, sagte sie.
    »Und du hast Judy engagiert«, sagte Harrison.
    »Ich habe sie hierher geholt. Und habe sie angelernt.«
    »Ihr beide führt den Gasthof.«
    »Ja«, bestätigte Nora. »Ich bezahle sie gut.«
    Harrison wünschte, er hätte noch einen Tag. Noch eine Woche. »Ich will nicht nach Toronto zurück«, sagte er. »Es ist schrecklich, das zu sagen, aber es ist wahr. Ich möchte hier bei dir bleiben.«
    Nora stand vom Bett auf und blieb vor ihm stehen. »Hier ist meine Festung«, sagte sie. »So will ich es. So brauche ich es.«
    Er stand ebenfalls auf, und sie küßte ihn.
    »Ich muß mich anziehen«, sagte sie.
    Harrison wußte plötzlich, daß sie einander nicht wiedersehen würden. Nicht zum dreißigsten Jahrestag in drei Jahren, nicht zum vierzigsten und nicht zum fünfzigsten, sollte er da noch leben. Eines Tages würde ein Mann in den Gasthof kommen – ein Mann wie Harrison, aber ungebunden, ein Mann, mit dem sie keine gemeinsame Geschichte hatte – und Nora sehen und mit ihr sprechen, und das würde es dann gewesen sein.
    »Dein Mann hatte recht«, sagte er. »Für eine bestimmte Art von Schmerz gibt es keine Worte.«
    Er ging zur Flügeltür und öffnete sie. Er trat auf die Veranda hinaus. Seine Kinder würden nie vom Verrat ihres Vaters erfahren. Harrison würde nach Hause fahren, mit seinen Jungen Baseball spielen und Schlittschuh laufen, und sie würden nie erfahren, daß er einmal – eine Zeitlang – bereit gewesen war, sie zu verlassen.
    Die Sonne war unerwartet warm auf seinem Gesicht. Er ging durch den Matsch um das Haus herum nach vorn. Und dabei dachte er an die schmelzenden Gletscher und die Vögel, die nach Norden flogen.

VOM FENSTER AUS sah Agnes Innes um die Ecke kommen, ohne Jacke oder Mantel durch den Schneematsch gehen. Es war natürlich nicht Innes, sondern Harrison Branch in dem Hemd und der Hose, die er am vergangenen Abend angehabt hatte. Aber es hätte Innes sein können, Innes mit vierundvierzig. Die gleiche aufrechte, aber zaghafte Haltung. Das Haar, das sich zu lichten begann. Warum ging Harrison durch den Schnee?
    Hinter Agnes auf dem Bett lagen ihre ordentlich gepackte Sporttasche, ihre gefaltete Jacke, ihr Rucksack mit den Seifen und den Shampoos, die der Gasthof (Nora?) großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Sie warf einen Blick auf den Brief an Jim Mitchell, den sie gestern abend vor ihrer Beichte beim Hochzeitsessen angefangen hatte und der immer noch unvollendet auf dem Schreibtisch lag. Sie würde ihn zerreißen und wegwerfen (es war jetzt nicht mehr nötig, die Fetzchen mit nach Hause zu nehmen). Es war möglich, dachte Agnes, daß Jim von ihrem Verrat nie erfahren, daß er glauben würde, sie habe sich einfach in Luft aufgelöst. Und genau das, sagte sie sich, würde passieren. Sie würde sich in Luft auflösen. Sie würde an die Kidd zurückkehren, einen Ort, den sie physisch und in Gedanken selten

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