Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
bringen – diese herabstürzenden Körper.
»Hattest du Angst?« fragte er.
»Hier? Nein. Eigentlich nicht. Ich war fassungslos. Völlig fassungslos. Aber ich hatte keine Angst. Ich dachte an Carl und war froh, daß er nicht mehr lebte. Das nicht sehen mußte.«
Nora kaute an der Nagelhaut ihres Zeigefingers, hörte abrupt auf und legte die Hände mit Entschiedenheit in den Schoß. Harrison hörte das Geräusch eines Staubsaugers hinter der geschlossenen Bibliothekstür.
»Viele sagen, es bedeute auch den Tod der Literatur«, fügte sie hinzu.
»Das ist doch sehr extrem.« Er richtete sich ein wenig auf. Solche theatralischen Bemerkungen hatten ihn in den Tagen nach der Katastrophe ungeheuer geärgert. »Ich habe die Arbeit deines Mannes sehr bewundert«, fügte er hinzu und tadelte sich insgeheim, das nicht früher erwähnt zu haben.
»Er – er war ein wundervoller Mensch«, sagte Nora. »Ein wundervoller Dichter und ein wundervoller Mensch.«
»Ja.«
»Ich war seine Gehilfin«, sagte Nora und überraschte Harrison mit dem altmodischen Wort. Das Brillante an Carl Laskis Arbeit war für Harrison der indirekte Ansatz, wie da häufig das Wesentliche im Beiläufigen gesagt wurde: das Schielen nach einer Schlagzeile über den Frühstückstisch hinweg, während eine Frau ihrem Ehemann mitteilt, daß sie einen Geliebten hat; oder ein Mann, der in einem Flughafenterminal am Handy seine Frau beschimpft und achtlos an einem kleinen Kind vorübergeht, das allein mit einem roten Koffer dasteht. Später wird die Erinnerung an das einsame Kind mit dem roten Koffer den Mann in seinem Hotelzimmer in die Knie zwingen.
Harrison kannte natürlich Laskis Ruf. Der Dichter hatte zahlreiche internationale Preise gewonnen, war mit Ehrentiteln überhäuft worden und – bei seinem Tod – Professor emeritus des St. Martin’s College gewesen. Er hatte die berühmte St. Martin’s Writers School gegründet und eine große Zahl von Dichtern in die Welt entlassen. Harrison hatte gelesen, daß Laski die Dichtkunst für die höchste Berufung des Menschen gehalten habe, eine Berufung, die es wert war, ihr Ehe und Gesundheit zu opfern, ganz zu schweigen von finanzieller Sicherheit. Vor allem seinen Bemühungen war es zu verdanken, daß die Lyrik zur Zeit seines Todes eine Art Renaissance erlebte, so zarter Natur allerdings, daß davon kaum etwas in das nordamerikanische Bewußtsein gedrungen war. Nicht einer unter vierzig Menschen konnte heute einen lebenden Dichter nennen, dachte Harrison bei sich. Nicht einer unter Hunderten hätte sagen können, wer Carl Laski gewesen war.
Harrison hatte auch Roscoffs Biographie gelesen, ein Buch, das sich literarisch gab, jedoch kaum Interesse an Laskis Arbeit zeigte. Vielmehr hatte Roscoff das Hauptaugenmerk auf die schrillen Aspekte dieses Dichterlebens gerichtet: auf den Vater, der seinen Sohn mißhandelt hatte; auf das schon früh auftretende Alkoholproblem; die endlosen Frauengeschichten während seiner Lehrtätigkeit an der New York University; die katastrophale erste Ehe; die Trennung von seinen Söhnen als Ergebnis eines erbitterten Kampfes um das Sorgerecht; seinen selbstauferlegten (und etwas misanthropischen) Rückzug an das Provinzcollege in West-Massachusetts. »Dein Mann hätte den Nobelpreis bekommen müssen«, sagte Harrison.
Nora lachte. »Da würde er dir zustimmen, wenn er noch am Leben wäre.«
»War es nicht schwer zu ertragen für ihn, Jahr für Jahr übergangen zu werden?«
»Es – es war jedesmal ein Ereignis , wenn der Preis vergeben wurde. Ich meine, es wurde registriert. Wie ein kleines seismisches Beben. Er hörte es in den Nachrichten oder las es in der Zeitung, oder es rief jemand an und erzählte es ihm, und dann fiel sein Gesicht einen Moment lang in sich zusammen. Während er sich noch über den Gewinner aufregte oder einen anderen Teil der Zeitung las. Nur ein einziges Mal hat es ihn nicht getroffen – das war, als Seamus Heaney den Preis bekam. Er hat Seamus geliebt.«
Harrison stellte seine Tasse ab. Laski war dreißig Jahre älter gewesen als Nora. Als die beiden sich kennengelernt hatten, war Nora neunzehn, Laski neunundvierzig. »War das eigentlich jemals ein Problem für euch – der Altersunterschied?« fragte er.
»Nur daß er vor mir sterben würde.«
Harrison horchte nach einem Unterton der Bitterkeit oder des Schmerzes.
»Wir wußten von Anfang an, daß es so kommen müßte«, fügte sie hinzu.
Harrison nickte.
»Wir hatten nur keine Ahnung,
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