Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren
Radio in seinem Zimmer stehen. Wir zogen die Rollos herunter, damit die Morgensonne seine zarte Haut nicht verbrannte. Wir hörten ihn lachen, wenn wir unten vor dem Fernsehgerät saßen. Wir hörten ihn die Arme bewegen, damit das Bett quietschte. Wir hörten ihn mitten in der Nacht husten.
„Na ja, vermutlich kannst du sagen, dass er dahinvegetiert. Doch für mich ist er Oliver, mein Bruder. Du würdest ihn mögen.“
Eines Tages im Oktober 1946, als meine Mutter mit Oliver, ihrem zweiten Sohn, schwanger war, atmete sie, während sie schlief, die giftigen Dämpfe eines undichten Kohleofens ein. Mein ältester Bruder schlief in seinem Kinderbett, das hoch genug stand, sodass das Gas ihn nicht erreichte. Als mein Vater es merkte, brachte er sie nach draußen und meine Mutter erholte sich schnell wieder.
Am 20. April 1947 wurde Oliver dann geboren, ein gesund aussehender, hübscher kleiner Junge.
Eines Nachmittags einige Monate später stellte sich meine Mutter mit Oliver ans Fenster. Sie hielt ihn in die Sonne, die grelle, schöne Sonne und Oliver sah direkt hinein. In diesem Augenblick wurde meiner Mutter klar, dass Oliver blind war. Meine Eltern, die eigentlichen Helden dieser Geschichte, erfuhren in den folgenden Monaten, dass er nicht nur blind war, denn sie brachten Oliver ins Mount-Sinai- Krankenhaus in New York, um das Ausmaß seiner Schädigung feststellen zu lassen.
Der Arzt ließ keinen Zweifel daran, dass absolut nichts für Oliver getan werden konnte. Er wollte nicht, dass meine Eltern falsche Hoffnung schöpften, und sagte deshalb: „Sie könnten ihn in ein Pflegeheim bringen.“
„Aber“, erwiderten meine Eltern, „er ist doch unser Sohn. Wir werden Oliver natürlich mit nach Hause nehmen.“
Der Arzt antwortete darauf nur: „Dann nehmen Sie ihn mit nach Hause und lieben Sie ihn.“
Oliver wuchs zur Größe eines Zehnjährigen heran. Er hatte eine breite Brust und einen großen Kopf. Seine Hände und Füße hingegen waren die eines Fünfjährigen, klein und weich. Zu Weihnachten schenkten wir ihm eine Schachtel mit besonderem Babybrei; wenn wir im Juli von einer Hitzewelle heimgesucht wurden, legten wir ihm feuchte Tücher auf die Stirn. Seine Taufurkunde hing an der Wand über seinem Kopf und ein Bischof kam sogar zu uns ins Haus und firmte ihn.
Selbst jetzt, fünf Jahre nachdem er am 12. März 1980 an einer Lungenentzündung gestorben war, ist Oliver für mich noch immer der schwächste, hilfloseste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Er konnte absolut nichts alleine tun, außer atmen und schlafen, und doch hat er so vieles bewirkt.
Als ich klein war, sagte meine Mutter immer: „Ist es nicht toll, dass du sehen kannst?“
Und ein anderes Mal sagte sie: „Wenn du in den Himmel kommst, wird Oliver auf dich zugerannt kommen, dich umarmen und als Erstes ‚Danke‘ sagen.“
Ich erinnere mich auch noch daran, dass meine Mutter mir immer erklärte, wir wären mit Oliver auf eine Weise gesegnet worden, wie es ihr zuerst gar nicht klar gewesen sei.
Wie oft erleben Eltern, dass ihr Kind geistig zurückgeblieben, hyperaktiv, sehr fordernd oder wild ist, dass es unablässige Pflege braucht. Wie viele Menschen haben gar keine andere Wahl, als ihr Kind in einem Heim unterzubringen. Wir hatten Glück, dass Oliver immer den ganzen Tag lang in seinem Zimmer sein konnte. Er wusste nicht, in welchem Zustand er sich befand. Und wir wurden durch seine Gegenwart gesegnet, eine Gegenwart des Friedens.
Einmal, mit Anfang 20, lernte ich ein Mädchen kennen und verliebte mich in sie. Nach ein paar Monaten dann brachte ich sie mit nach Hause, damit sie meine Familie kennenlernte. Als meine Mutter in die Küche ging, um das Abendessen vorzubereiten, fragte ich das Mädchen: „Möchtest du Oliver sehen?“, denn ich hatte ihr von meinem Bruder erzählt.
„Nein“, antwortete sie.
Bald darauf lernte ich Rose kennen, ein sehr nettes Mädchen. Sie fragte mich nach meinen Geschwistern, denn sie liebte Kinder. Und ich fand sie einfach wundervoll. Nach ein paar Monaten brachte ich sie mit nach Hause, damit sie meine Familie kennenlernte. Nach einer Weile war es für mich an der Zeit, Oliver zu füttern. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals Rose verlegen fragte, ob sie ihn gern kennenlernen wolle.
„Sicher“, antwortete sie.
Ich setzte mich also an Olivers Bett und Rose beobachtete, wie ich ihn fütterte.
„Kann ich das machen?“, fragte Rose bald darauf ganz freimütig, ohne Vorbehalte
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