Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren

Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren

Titel: Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerth Medien GmbH
Vom Netzwerk:
noch nicht, dass Gott, wenn er einen Pastor ordiniert, ihm auch das Herz eines Pastors gibt. Und so stand ich schweigend im Zimmer, überrascht von der Tiefe meiner Liebe, aber enttäuscht von dem Gefühl der absoluten Ohnmacht.
    Lester zuckte vor Schmerz zusammen, denn die Dosis seiner Medikamente war nicht stark genug, um seine physischen Schmerzen vollkommen auszuschalten. So krampfte sich sein Körper immer wieder unter dem Schmerz, der von seinen Knochen ausstrahlte, zusammen. Deswegen schnappte er auch immer wieder nach Luft und ließ sie dann langsam entweichen. Währenddessen stöhnte er rhythmisch: „O-h-h-h weh.“ Es war ein schmerzerfülltes, trauriges Stöhnen. Doch gleichzeitig lag darin eine bestechende Schönheit. Es war nicht nur ein Schrei der Pein. Es war ein Seufzen der Seele. Und je mehr ich zuhörte, desto mehr klang es in meinen Ohren wie ein Lied und nicht wie ein Stöhnen. „O-h-h-h weh. O-h-h-h weh.“
    Der Sohn beugte sich liebevoll zu ihm herunter. Dabei hatte doch ich das Predigerseminar besucht und war auf diesem Gebiet ausgebildet worden. Ich hielt mich jedoch weiter im Hintergrund und beobachtete diesen Sohn sehr aufmerksam. Sein zuversichtliches Verhalten zeigte mir, dass er wusste, wie er seinem geliebten Vater am besten helfen konnte. Er umklammerte dessen Hand und mit der Andeutung eines Lächelns beugte er sich tief über seinen Vater.
    Lester stöhnte erneut: „O-h-h-h weh.“
    Und dann passierte, was ich mir nie hätte träumen lassen. Der Sohn wiederholte dieses: „O-h-h-h weh.“
    Der weißhaarige Patient stöhnte lauter: „O-h-h-h weh.“
    Und wieder ertönte das Echo von dem Sohn: „O-h-h-h weh.“
    Was erlebte ich da mit? War eine solche Gefühllosigkeit möglich? Konnte ein Sohn sich tatsächlich über das Stöhnen seines sterbenden Vaters lustig machen?
    Ich überlegte, ob ich den Sohn unterbrechen sollte. Ja, ich dachte sogar darüber nach, den Mann von dem Bett fortzuzerren, um seinen Vater vor dieser offensichtlichen Demütigung zu bewahren. Aber seltsamerweise schien Lester durch das ungewöhnliche Echo seines Sohnes getröstet zu werden. Darum wartete ich ab.
    An diesem Tag sollte ich eine sehr wichtige Lektion über den Aspekt des Mitleidens lernen, die ich nie in meinem Leben vergessen würde.
    Nachdem ich dieses erstaunliche Stöhnduett von Vater und Sohn eine ganze Weile mitangesehen hatte, verließ ich mit dem Sohn das Krankenzimmer. Dann erklärte er mir sein Handeln.
    Als ich diesen alten Mann kennengelernt hatte, war er noch zu Hause, nicht im Krankenhaus. Obwohl sich Lesters Gesundheitszustand rapide verschlechterte und seine Schmerzen immer stärker wurden, gab es keinen Ort, wo er sich wohler fühlte als in seinem Zuhause. Lester war zwar dankbar für das schöne Krankenhaus, in dem er lag, aber dort gab es kein selbst gekochtes Essen, nicht den Ausblick auf die Straße, in der er sein Leben lang gelebt hatte, und keinen Wesley.
    Wesley war Lesters zweijähriger Enkel. Ich hatte diesen kleinen Hosenmatz als ein Kind kennengelernt, das selbst in die größte Dunkelheit Licht brachte. Ich hatte erlebt, dass Lester zu lächeln begann, sobald das Kind in seiner Nähe war. Ich wusste, dass Wesleys Gegenwart half, Lesters Schmerzen zu lindern. Und ich wusste, wie sehr er den kleinen Jungen liebte. Doch was Lesters Sohn mir vor seinem Krankenzimmer erzählte, hat mich tief berührt:
    Lesters Gesundheitszustand hatte sich verschlimmert und er hatte kaum noch laufen können. Wenn er es überhaupt noch getan hatte, dann nur mit einer Gehhilfe. Jeder Schritt hatte ihm wehgetan. Und bei jedem Schritt hatte Lester leise aufgestöhnt: „O-h-h-h weh.“ Schritt. „O-h-h-h weh.“ Schritt.
    Eines Tages war der kleine Wesley auf seinen stöhnenden, schlurfenden Großvater zugekommen und hatte seine kleine Hand auf Lesters Gehhilfe gelegt. So hatte er bei jedem schmerzenden Schritt „geholfen“. Mit all seiner Kraft half Wesley, die Gehhilfe hochzuheben und weiterzuschieben.
    Und auf jedes von Lesters Stöhnen hatte der kleine Zweijährige wiederholt: „O-h-h-h weh. O-h-h-h weh.“
    Obwohl ich diese Szene nicht selbst miterlebt habe, kann ich sie mir lebhaft vorstellen. Wie unterschiedlich waren doch der alte Mann und der kleine Junge. Der Altersunterschied betrug mehr als 70 Jahre. Der eine hatte sein Leben bereits hinter sich, der andere hatte es noch vor sich. Die Knochen des einen waren so brüchig, dass jeder Ausflug in den Hausflur riskant war, die Knochen

Weitere Kostenlose Bücher