Eine Krone für Alexander (German Edition)
kokett gewesen sein
musste. „Ich jedenfalls nicht. Ich kann gar nicht lesen. Genauso wenig wie deine Großmutter . “
Er blinzelte irritiert. „Meine Großmutter? Was hat sie damit
zu tun?“
„Warum fragst du mich nach ihr? Ich kannte Eurydika gar
nicht.“
„Aber du kennst ihren Namen!“
„Lass dich nicht auf die Spielchen deiner Mutter ein.“
Alexander zuckte zusammen. Er war sich nicht einmal sicher,
ob er die Worte wirklich gehört oder sie sich nur eingebildet hatte, doch die
Stimme hatte er erkannt – es war Eurydikas Stimme, und sie jagte ihm einen Schauder
über den Rücken.
Die alte Frau hatte sich auf erschreckende Weise verändert.
Sie wirkte nun weder spitzbübisch noch kokett. Ihr Lächeln war verschwunden.
Ihre Augen, obwohl immer noch trübe, starrten ihm forschend ins Gesicht, ihr
Blick schien in sein Innerstes zu dringen, und er fragte sich, wieso er die
Seherin jemals für blind gehalten hatte. Der Wind hatte aufgefrischt, und das
bisher so sanfte Säuseln der Blätter wurde zu einem Rauschen, das anschwoll und
immer stärker wurde, bis es alles andere überlagerte.
„Lass dich nicht von ihr gegen deinen Vater aufhetzten.
Er ist es, den du beerben willst, nicht sie.“
So schnell, wie es gekommen war, war es wieder vorbei. Der
Wind flaute ab, und es wurde still. Die Seherin legte ihm die Hand auf den Arm
und sah zu ihm auf. Ihre Härte war verflogen, als hätte es sie nie gegeben. Nun
wirkte sie wieder freundlich, fast sogar fürsorglich.
„Vielleicht ist es nicht klug, seine geheimsten Gedanken einem
Streifen Blei anzuvertrauen und ihn in einen Kessel zu legen, wo jeder sie
lesen kann. Und was deine Bestimmung betrifft: Kein Seher kann sie dir enthüllen,
wenn du selbst nicht bereit dafür bist. Man soll die Götter nur befragen, wenn
man ihre Antwort wirklich wissen will.“
„So etwas Ähnliches hat vor langer Zeit schon einmal jemand
zu mir gesagt“, erwiderte er und dachte an die Priesterin aus Samothrake.
„Sagen das eigentlich alle Seher?“
„Nur die wahren.“
2
Der König der Molosser sollte recht behalten: Der Winter kam
in diesem Jahr früh. Am nächsten Morgen waren sie aufgebrochen. Olympias hatte
mit verweinten Augen am Palasttor gestanden und Alexander nachgeschaut, wie er
auf der Straße nach Norden davonritt, gefolgt von Hephaistion, der das
Packpferd am Zügel hinter sich herzog.
Auf den Gipfeln lag bereits der erste Schnee. Sie übernachteten
in Dörfern oder abgelegenen Gehöften oder in leer stehenden Hütten. Bald erreichten
sie die illyrische Grenze, zogen an den großen Seen vorbei ins Drilon-Tal und
weiter nach Norden, auf der Suche nach Pleurias. Nur selten begegneten sie Menschen,
die Griechisch verstanden, doch Pleurias’ Name schien den Bauern und Hirten
geläufig zu sein, und so ritten sie einfach nur in die Richtung, die man ihnen
zeigte.
Sie folgten einem der reißenden Nebenflüsse des Drilon
stromaufwärts, bis sich das Tal zu einer gewundenen Schlucht verengte. Hinter
einer Biegung versperrte ihnen ein Trupp Reiter den Weg. Es waren fünf oder
sechs, für illyrische Verhältnisse gut bewaffnet, nicht einfach nur Leute aus
dem nächsten Dorf – also waren sie entweder Wegelagerer oder eine Patrouille
von Pleurias’ Kriegern (sofern es da überhaupt einen Unterschied gab). Alexander
und Hephaistion hatten außer ihren Pferden und Waffen nichts bei sich, was zu
rauben sich lohnte, doch das reichte vermutlich schon. Hephaistion griff nach
seinem Schwert, doch Alexander legte ihm die Hand auf den Arm. Während sie
ruhig auf die Illyrer zuritten, behielt er unauffällig die Böschung rechts im
Auge.
Alexander nannte Pleurias’ Namen und machte eine fragende
Geste. Einer der Illyrer, ein finster aussehender Kerl mit buschigem, schwarzem
Bart, setzte ein breites Grinsen auf und wies flussaufwärts. Die Illyrer wendeten
ihre Reittiere und setzten sich in Bewegung. Alexander und Hephaistion folgten
ihnen notgedrungen.
Als die Schlucht wieder breiter wurde, tauchte wie aus dem
Nichts ein Dutzend weiterer Reiter auf und schwenkte hinter ihnen auf den Pfad.
Hephaistion drehte sich um zu dem Mann hinter ihm, einem jungen Kerl, dessen
Fellmütze schief und verwegen auf seinem Kopf saß. Der Junge grinste und
wiederholte immer wieder: „Pleurias! Pleurias!“
„Wir können nur hoffen“, sagte Hephaistion leise, „dass die
Kerle uns tatsächlich zu Pleurias bringen. Und dass er einigermaßen gut auf
dich zu sprechen ist.“
Alexander
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