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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Keller
    I.
    Wenn man 1783, am Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, jemandem gesagt hätte, dass New York eines Tages die größte Stadt der Welt sein würde, hätte man nur Kopfschütteln geerntet. Denn die Aussichten New Yorks waren 1783 alles andere als rosig. Weil es der englischen Krone so treu gewesen war wie keine Stadt sonst, hatte der Krieg sein Ansehen in der neuen Republik nicht gerade gefördert. 1790 hatte es 10 000 Einwohner, und Philadelphia, Boston und sogar Charleston waren weit umschlagstärkere Hafenstädte.
    Der Staat NewYork besaß allerdings einen wesentlichen Vorteil: eine Öffnung gen Westen durch die Appalachen, den Gebirgszug, der parallel zum Atlantischen Ozean verläuft. Heute kann man kaum noch glauben, dass diese sanft ansteigenden Berge, oft kaum mehr als große Hügel, einmal ein ernsthaftes Hindernis für die Mobilität der Menschen darstellten. Aber es gab fast keinen brauchbaren Pass in der insgesamt mehr als 4000 Kilometer langen Gebirgskette, und sie stellte ein derartiges Hindernis für Handel und Verkehr dar, dass viele Leute glaubten, die Pioniere, die jenseits der Berge siedelten, würden sich schließlich schon aus praktischer Notwendigkeit von den Kolonien an der Ostküste abkoppeln und einen eigenen Staat bilden. Für die Farmer jenseits der Appalachen war es nämlich billiger, ihre Produkte flussabwärts über den Ohio und Mississippi nach New Orleans zu verschiffen und von dort um Florida herum die Atlantikküste hinauf nach Charleston oder in einen anderen Hafen an der Ostküste, als sie mühsam übers Gebirge zu transportieren. Auch wenn das zehnmal länger dauerte.
    Aber 1810 kam De Witt Clinton, damals Bürgermeister von New York und schon bald Gouverneur des gleichnamigen Staates, mit einer Idee an, die viele für vermutlich irre, auf jeden Fall aber illusorisch hielten. De Witt Clinton schlug vor, durch den Staat bis zum Eriesee einen Kanal zu bauen, der New York mit den Großen Seen und dem reichen Ackerland dahinter verbinden sollte. Kein Wunder, dass die Leute von »Clintons Hirngespinst« sprachen. Mit Spitzhacke und Schaufel hätte man den Kanal, gut zwölf Meter breit, durch 585 Kilometer rauer Wildnis graben und, um die vielen Höhenunterschiede auszugleichen, dreiundachtzig Schleusen bauen müssen, deren jede 27,5 Meter lang hätte sein müssen. An manchen Abschnitten durfte die Steigung durchschnittlich nicht mehr als zweieinhalb Zentimeter pro eineinhalb Kilometer betragen. Noch nie hatte man in der besiedelten Welt, geschweige denn in der Wildnis, einen Kanalbau versucht, der auch nur annähernd so viele Schwierigkeiten bot.
    Hinzu kam, dass es in den Vereinigten Staaten keinen einzigen dort aufgewachsenen Ingenieur gab, der jemals an einem Kanal gearbeitet hatte. Thomas Jefferson, der ehrgeizige Ziele normalerweise hoch achtete, fand das Vorhaben geisteskrank. »Es ist ein wunderbares Projekt und kann vielleicht in hundert Jahren verwirklicht werden«, räumte er nach Durchsicht der Pläne ein, fuhr aber gleich darauf fort: »Heute an so etwas zu denken grenzt an Wahnsinn.« Präsident James Madison verweigerte die Hilfe der Bundesregierung, zumindest teilweise von dem Wunsch beseelt, den Hauptanteil der Handelsaktivitäten weiter im Süden zu behalten, weg von der alten Hochburg der Loyalisten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
    NewYork stand also vor der Alternative, die Sache allein durchzuziehen oder darauf zu verzichten. Trotz der Kosten, Risiken und des fast vollständigen Mangels an notwendigen Fachkenntnissen beschloss die Stadt, das Projekt selbst zu finanzieren. Vier Männer, Charles Broadhead, James Geddes, Nathan Roberts und Benjamin Wright, wurden mit der Arbeit beauftragt. Drei waren Richter, der vierte Lehrer. Keiner hatte jemals einen Kanal gesehen, geschweige denn einen gebaut. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war eine gewisse Erfahrung in der Landvermessung. Doch sie waren experimentierfreudig, lasen viel, holten sich Rat ein und schafften es, das größte technische Wunderwerk zu vollenden, das die Neue Welt je gesehen hatte. Sie waren die ersten Leute in der Geschichte, die lernten, einen Kanal zu bauen, indem sie einen Kanal bauten.
    Ganz früh schon stellte sich heraus, dass der Mangel an dem richtigen Zement die Durchführbarkeit des gesamten Unternehmens gefährdete. Man brauchte nämlich mehr als eineinhalb Millionen Liter Zement, um den Kanal wasserdicht zu machen. Schon wenn nur an einer Stelle Wasser

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