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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Regeln natürlich Nachhilfe gebraucht. John Jacob Astor, einer der reichsten, aber offenbar nicht der kultiviertesten Männer in den Vereinigten Staaten, erstaunte seine Gastgeber bei einer Dinnerparty, als er sich vorbeugte und die Hände am Kleid der Dame abwischte, die neben ihm saß. Ein populäres US-amerikanisches Handbuch »by a Gentleman«, Die Gesetze der Etiquette oder kurze Regeln und Reflectionen für das Benehmen in Gesellschaft informierte seine Leser, dass sie »sich den Mund am Tischtuch abwischen, aber nicht die Nase hineinschneuzen durften«. Ein anderes mahnte streng, dass es in feineren Kreise nicht höflich sei, an dem Fleisch zu riechen, wenn man es mit der Gabel aufgespießt habe, und erklärte: »Unter Menschen mit guter Erziehung ist Folgendes Usus: Die Suppe nimmt man mit einem Löffel zu sich.«
    Die Essenszeiten wurden so beweglich, dass es bald kaum noch eine Stunde am Tag gab, die nicht bei irgendjemandem irgendeiner Mahlzeit vorbehalten war. In gewissem Maße waren diese Mahlzeiten von den gesellschaftlich lästigen, widersinnigen Pflichten bestimmt, Hausbesuche zu machen und zu empfangen. Üblich waren Hausbesuche zwischen zwölf und fünfzehn Uhr jeden Tag. Kam jemand vorbei und hinterließ eine Karte, wenn man nicht da war, verlangte es die Etikette, dass man den Besuch am nächsten Tag erwiderte. Es zu unterlassen wäre ein schwerer Affront gewesen. In der Praxis bedeutete es, dass die meisten Leute ihre Nachmittage mit dem Versuch verbrachten, ihre Zeitgenossen zu Hause zu erwischen, die auf ähnlich unproduktive Weise herumrannten, um ihrerseits ihre Zeitgenossen zu Hause zu erwischen.
    Zum Teil aus diesem Grund verschob sich die Essenszeit immer weiter in die Abendstunden — von mittags über nachmittags bis zum frühen Abend, doch die neuen Zeiten waren keineswegs allgemein verbindlich. Ein Besucher in London, der 1773 in einer Woche mehrmals zum Essen eingeladen worden war, bemerkte, dass er einmal »abends um sieben zu Tisch« gebeten wurde, aber auch mittags um ein Uhr, nachmittags um fünf beziehungsweise um drei Uhr speiste. Als achtzig Jahre später John Ruskin, der Kunsthistoriker, seinen Eltern erzählte, er habe es sich zur Angewohnheit gemacht, um sechs Uhr abends zu essen, fanden sie das ungeheuer lasterhaft und leichtsinnig. So spät zu essen, erwiderte seine Mutter, sei gefährlich ungesund.
    Was außerdem die Essenszeiten heftig beeinflusste, war das Theater. In der Ära Shakespeares begannen die Aufführungen gegen zwei Uhr mittags, was bequem war, weil sie den Mahlzeiten nicht in die Quere kamen, doch der Grund dafür war, dass man in Freilichtbühnen wie dem Globe Tageslicht brauchte. Als man das Spielen nach innen verlegte, setzte man die Anfangszeiten allmählich immer später an, und die Theaterbesucher mussten ihre Essgewohnheiten entsprechend umstellen. Was mit einem gewissen Unmut und Zögern geschah. Nicht fähig oder willens, ihre privaten Gepflogenheiten noch weiter anzupassen, kam die Hautevolee schließlich gar nicht mehr zum ersten Akt ins Theater, sondern schickte ihre Diener, die ihre Plätze besetzen mussten, bis sie zu Ende getafelt hatten. Dann tauchten sie — gemeinhin lärmend, betrunken und nicht geneigt, sich zusammenzunehmen — zu einem späteren Akt auf. Etwa eine Generation lang war es üblich, dass eine Theaterkompanie die erste Hälfte eines Stücks vor einem Publikum dösender Diener aufführte, denen das Geschehen auf der Bühne herzlich einerlei war, und die zweite Hälfte vor randalierenden Trunkenbolden, die keine Ahnung hatten, was ablief.
    Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde das Dinner dann unter dem Einfluss Königin Victorias endlich zum Abendessen. Weil aber dadurch die Zeitspanne zwischen Frühstück und Abendessen länger wurde, befand man es für nötig, eine kleine Mahlzeit für die Mitte des Tages anzuberaumen, den luncheon (vornehm ausgedrückt) oder lunch. Lange Zeit hatte »luncheon einfach eine kleine Portion bezeichnet — »so viel, wie in eine Hand passt«, wie Samuel Johnson 1755 in seinem Wörterbuch festhielt.
    Aus dem Ganzen wiederum folgte, dass die Leute, die sich bisher die meisten Kalorien zum Frühstück und mittags einverleibt und abends nur ein wenig nachgefüllt hatten, es jetzt genau umgekehrt hielten. Die meisten von uns verzehren den Hauptteil der täglichen Kalorien abends und nehmen sie mit ins Bett, was uns überhaupt nicht guttut. Die alten Ruskins hatten recht.

Neuntes Kapitel
    Der

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