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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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verlieh der britischen Architektur in vielem ein neues Gesicht — nicht immer, muss man sagen, zu ihrem Vorteil. Mit Kathedralen nachte er besonders kurzen Prozess und griff radikal ein. Ein Kritiker namens John Carter war so empört über Wyatts Faible, alte o Inneneinrichtungen herauszureißen, dass er ihn »den Zerstörer« nannte und ihm 212 Essays — im Grunde sein ganzes Berufsleben — widmete, um seinen Stil und seine Person niederzumachen.
    Die Kathedrale in Durham wollte Wyatt mit einem mächtigen Turm krönen. Dazu kam es aber nie, was vielleicht ganz gut war, denn in Fonthill konnte man bald darauf erleben, dass es wenige Orte gab, die gefährlicher waren als unter einem Turm von Wyatt. Er wollte auch die uralte Galiläa-Kapelle in der Kathedrale abbrechen lassen, die letzte Ruhestätte des Ehrwürdigen Beda und eines der großen Werke der normannischen Arehitektur in England. Zum Glück fand auch dieses Vorhaben keine Befürworter.
    Beckford war von Wyatts Kühnheit und Genialität fasziniert, aber dessen ausschweifendes Leben und absolute Unzuverlässigkeit trieben ihn in den Wahnsinn. Immerhin schaffte er es, ihn so weit bei der Stange zu halten, dass er einen Plan zeichnete. Kurz vor der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert begann dann die Arbeit an Fonthill.
    Alles daran sollte fantastische Ausmaße haben. Fenster wurden fünfzehn Meter hoch, Treppenaufgänge so breit wie lang, die Haupteingangstür mehr als neun Meter hoch. Damit sie noch höher wirkte, stellte Beckford Zwergenportiers dorthin. An den vier Bogengewölben im Oktagon, einem riesigen Saal in der Mitte des Gebäudes, von dem vier lange Korridore abgingen, waren vierundzwanzig Meter lange Vorhänge angebracht. Der Blick durch den Hauptkorridor war über 900 Meter weit, der Tisch im Esszimmer, an dem Abend für Abend einzig Beckford saß, fünfzehn Meter lang. Alle Zimmerdecken verschwammen in der fernen Düsternis des hohen Hammerbalkendachs. Fonthill war wahrscheinlich das aufwändigst erbaute Wohngebäude, das es je gab — und alles nur für einen Mann, der allein lebte und »den man als Nachbar nicht besuchte«. Damit auch wirklich niemand ihn behelligen konnte, um-

    gab Beckford sein Anwesen mit einer imposanten Mauer, die die Barriere« genannt wurde. Sie war drei Meter sechzig hoch, achtzehn Kilometer lang und von eisernen Zacken gekrönt.
    Zu den zusätzlichen, noch geplanten Bauten gehörte ein sechsunddreißig Meter langes, mächtiges Grabmal, in dem sein Sarg auf ein sieben Meter fünfzig über dem Boden befindliches Podest gestellt werden sollte, damit die Würmer nicht an ihn rankonnten.
    Fonthill war absichtlich und hemmungslos asymmetrisch — »architektonische Anarchie« in den Worten des Historikers Simon Thurley —, der Stil überladen neugotisch, so dass es aussah wie eine Kreuzung zwischen einer mittelalterlichen Kathedrale und Draculas Burg. Wyatt hatte den neugotischen (auf Englisch oftmals Gothick) Stil nicht erfunden. Diese Ehre gebührt dem seinerzeit sehr beliebten und bekannten Horace Walpole mit seinem Haus Strawberry Hill am Stadtrand Londons. Als Gothick bezeichnete man ursprünglich übrigens auch nicht einen bestimmten Baustil, sondern eine eher düstere Romangattung, die Walpole 1764 mit dem Schauerstück Das Schloss von Otranto begründet hatte.
    Strawberry Hill war ein eher zurückhaltendes, pittoreskes Haus — mehr oder weniger konventionell mit sparsamem gotischen Maßwerk und sonstigem Schmuck. Wyatts neugotische Schöpfungen waren bei Weitem düsterer und schwerer. Sie besaßen drohend aufgerichtete eckige Türme, romantische Spitztürme und ein Wirrwarr an absichtlich asymmetrischen Dächern, so dass es aussah, als seien sie über die Jahrhunderte organisch gewachsen. Sie muten an wie eine Hollywood-Fantasie der Vergangenheit, lange bevor es Hollywood gab, und troffen vor Düsternis und Bedrohlichkeit.
    Besessen davon, das Bauvorhaben zu vollenden, beschäftigte Beckford bis zu fünfhundert Mann, die rund um die Uhr arbeiteten, doch immer ging alles schief. Der vierundachtzig Meter hohe Turm war der höchste, der je auf ein Privathaus gesetzt worden war — ein Alptraum. In seiner Hast benutzte Wyatt einen Mörtel namens Parker's Roman Cement, der von einem Reverend James Parker aus Gravesend erfunden worden war, noch so einem aus dieser wissbegierigen Gattung von Kirchenmännern, denen wir zu Beginn des Buches begegnet sind. Was Reverend Parker in die Welt der Baumaterialien

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