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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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Mitläufer aus, um 300 Millionen Inder zu unterwerfen und zu beherrschen. 93
    Doch die Imperien finanzierten die Sprachforscher, Botaniker, Geographen und Historiker nicht nur aufgrund der naheliegenden praktischen Vorteile. Die Wissenschaften lieferten dem Imperialismus außerdem ein ideologisches Feigenblatt. Die modernen Europäer waren überzeugt, dass Wissenserwerb an sich gut ist. Die Tatsache, dass Imperien unablässig neues Wissen hervorbrachten, ließ sie in einem fortschrittlichen und positiven Licht erscheinen. Bis heute kann man in historischen Darstellungen der Geographie, Archäologie oder Botanik lesen, wie segensreich der Imperialismus doch gewesen sei – zumindest zwischen den Zeilen. Geschichten der Botanik breiten den Mantel des Schweigens über das Leid der Aborigenes, doch für James Cook oder Joseph Banks haben sie meist ein gutes Wort übrig.
    Und natürlich kam das von den Imperialisten gesammelte Wissen auch den unterworfenen Völkern zugute und brachte ihnen den »Fortschritt« in Form von Medizin und Bildung, Eisenbahnlinien und Kanälen, Recht und Wohlstand – zumindest theoretisch. Damit konnten die europäischen Imperialisten behaupten, den Kolonialherren gehe es nicht um Ausbeutung, sondern sie trugen »die Bürde des Weißen Mannes«, wie Rudyard Kipling es in dem gleichnamigen Gedicht nannte:
    Die Bürde des Weißen Mannes
    Ergreift die Bürde des Weißen Mannes
schickt die Besten aus, die ihr erzieht
Bannt eure Söhne ins Exil
den Bedürfnissen euerer Gefangenen zu dienen;
in schwerem Geschirre aufzuwarten
verschreckten wilden Leuten
euren neugefangenen verdrossenen Völkern,
halb Teufel und halb Kind.
    Dieser Ideologie zufolge nahmen die Europäer die Kolonialherrschaft aus reiner Selbstlosigkeit und zum Nutzen der Nichteuropäer auf sich.
    Die Tatsachen widersprachen diesem Mythos allerdings. Im Jahr 1764 eroberten die Briten Bengalen, seinerzeit die reichste Provinz Indiens. Die neuen Herrscher waren in erster Linie daran interessiert, sich die Taschen zu füllen. Dazu verfolgten sie eine verheerende Wirtschaftspolitik, die innerhalb kürzester Zeit zu einer riesigen Hungersnot führte. Die Katastrophe begann im Jahr 1769, erreichte im Jahr darauf verheerende Ausmaße und endete erst 1773. Rund zehn Millionen Bengali, etwa ein Drittel aller Einwohner der Provinz, kamen ums Leben. 94 Das hinderte William Jones und seine Kollegen jedoch nicht daran zu behaupten, sie brächten Bengalen den Fortschritt.
    Doch unterm Strich trifft die Geschichte von der Unterdrückung und Ausbeutung genauso wenig zu wie die von der »Bürde des Weißen Mannes«. Die europäischen Imperien waren auf so vielen Gebieten und in so vielfältiger Weise tätig, dass Kritiker leicht von den Kolonialherren verschuldete Katastrophen und Verbrechen finden, während Befürworter genauso leicht lange und eindrucksvolle Listen von Vorzügen und Fortschritten zusammenstellen können. Aufgrund ihrer Allianz mit den Wissenschaften hatten die europäischen Imperien eine derartige Machtfülle und agierten in derart gewaltigen Dimensionen, dass sie vermutlich jenseits von Gut und Böse waren. Sie schufen die Welt, wie wir sie heute kennen, und sie lieferten die Ideologien, aufgrund derer wir heute unsere moralischen Urteile fällen.
    Doch das Imperium fand auch andere und unheilvollere Anwendungen für die Wissenschaften. Biologen, Anthropologen und selbst Sprachwissenschaftler sollten den wissenschaftlichen Beweis liefern, dass die Europäer allen anderen Rassen überlegen waren, weshalb sie das Recht (und vielleicht sogar die Pflicht) hatten, über den Rest der Welt zu herrschen. William Jones argumentierte beispielsweise, dass alle indoeuropäischen Sprachen von einer einzigen Ursprache abstammten. Viele Wissenschaftler wollten herausfinden, wer diese Sprache gesprochen haben könnte. Dabei stellten sie fest, dass sich die ersten Sprecher des Sanskrit, die vor mehr als 3000 Jahren von Zentralasien nach Indien einfielen, Arya nannten. Die Sprecher der ältesten persischen Sprachen bezeichneten sich als Airiia . Daraus schlossen die europäischen Wissenschaftler, dass die Sprecher dieser Ursprache, aus der Sanskrit, Persisch und natürlich auch Griechisch, Latein, Gotisch oder Keltisch hervorgingen, »Arier« geheißen haben könnten. Sollte es ein bloßer Zufall sein, dass die Begründer der großartigen indischen und persischen Kulturen und der nicht weniger großartigen Kulturen von Griechenland und Rom sämtlich

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