Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
Vom Netzwerk:
neuen Hobby nach: der Abschrift der Behistun-Inschrift. Er setzte sein Leben aufs Spiel, als er in schwindelerregender Höhe die sonderbaren Zeichen kopierte. Außerdem heuerte er Helfer aus der Gegend an, vor allem einen kurdischen Jungen, der in die unzugänglichsten Teile der Wand kletterte und den oberen Teil der Inschrift kopierte. Im Jahr 1847 hatte er das Projekt abgeschlossen und schickte triumphierend die vollständige Abschrift nach Europa.
    Doch Rawlinson ruhte sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. Zwischen seinen verschiedenen militärischen und politischen Missionen verbrachte er ungezählte Stunden mit der Suche nach dem Schlüssel, mit dem er die Tür zu dieser geheimnisvollen Kultur öffnen konnte. Nachdem er verschiedene Methoden angewandt und die unterschiedlichsten Kniffe versucht hatte, gelang es ihm schließlich. Zunächst entzifferte er den altpersischen Text der Inschrift. Das war der einfachste, denn Altpersisch unterschied sich nicht allzu sehr vom modernen Persisch, das Rawlinson beherrschte. Nachdem er den altpersischen Teil geknackt hatte, machte er sich daran, auch den elamischen und babylonischen Texten ihr Geheimnis zu entreißen. Die große Tür öffnete sich und heraus strömte ein Jahrtausende altes, aber sehr lebendiges Stimmengewirr – das Gewusel der sumerischen Märkte, die Prahlereien assyrischer Könige und das Gezänk babylonischer Bürokraten.
    *
    Ein weiteres Beispiel für das enge Zusammenspiel von Imperium und Wissenschaft ist das Leben von Sir William Jones. Im September 1783 kam Jones als Richter des Obersten Gerichtshofs von Bengalen nach Indien. Er war so begeistert von den Wundern des Subkontinents, dass er weniger als ein halbes Jahr nach seiner Ankunft die Asiatic Society gründete. Diese wissenschaftliche Gesellschaft widmete sich dem Studium der Kultur, Geschichte und Gesellschaft Asiens und insbesondere Indiens. Nur zwei Jahre später veröffentlichte Jones ein Buch mit dem Titel The Sanskrit Language und begründete damit die neue Disziplin der vergleichenden Sprachwissenschaften.
    In seinem Buch verwies Jones auf die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit (der alten und heiligen Sprache der Hindus) und dem Griechischen und Lateinischen sowie auf Ähnlichkeiten zwischen diesen Sprachen und dem Gotischen, Keltischen, Altpersischen, Deutschen, Französischen und Englischen. In Sanskrit heißt »Mutter« beispielsweise »matar«, im Lateinischen »mater« und im Altkeltischen »mathir«. Jones mutmaßte, dass diese Sprachen einen gemeinsamen Ursprung haben und zu derselben Sprachfamilie gehören mussten (die später als indogermanische oder indoeuropäische Sprachfamilie bezeichnet werden sollte).
    Wenn The Sanskrit Language eine bahnbrechende Untersuchung war, dann nicht nur wegen der gewagten These (die sich als richtig herausstellte), sondern auch wegen der Methode, mit der Jones verschiedene Sprachen miteinander verglich. Diese Methode wurde von zahlreichen anderen Sprachforschern übernommen und ermöglichte die systematische Untersuchung der Entwicklung aller Sprachen der Welt.
    Die Imperien unterstützten die Sprachwissenschaften begeistert. Die europäischen Kolonialherren waren der Ansicht, um effektiv herrschen zu können, müssten sie die Sprachen und Kulturen ihrer Untertanen verstehen. Britische Offiziere, die nach Indien versetzt wurden, mussten bis zu drei Jahre lang in Kalkutta die Schulbank drücken und studierten dort hinduistisches und islamisches neben englischem Recht; Sanskrit, Urdu und Persisch neben Griechisch und Latein; und die Kultur der Tamilen, Bengalen und Hindustani neben Mathematik, Wirtschaft und Geographie. Die Sprachwissenschaften boten ein unverzichtbares Werkzeug, um die Struktur und Grammatik der einheimischen Sprachen zu verstehen.
    Dank der Arbeit von Menschen wie William Jones und Henry Rawlinson besaßen die europäischen Eroberer hervorragende Kenntnisse über ihre Imperien – mehr als alle früheren Eroberer und mehr als die Einheimischen selbst. Ihr überlegenes Wissen brachte ihnen natürlich eine ganze Menge praktischer Vorteile. Ohne dieses Instrument wäre es den Briten vermutlich nie gelungen, mit einem geradezu lächerlichen Kontingent zwei Jahrhunderte lang Hunderte Millionen von Indern zu beherrschen. Im ganzen 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts reichten weniger als 5000 britische Beamte, zwischen 40000 und 70000 britische Soldaten und geschätzte 100000 britische Unternehmer, Frauen, Kinder und

Weitere Kostenlose Bücher