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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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Selbst in Diktaturen sterben Menschen deutlich seltener durch Gewalteinwirkung als in vormodernen Gesellschaften. Im Jahr 1964 riss beispielsweise in Brasilien eine Militärjunta die Macht an sich und regierte bis 1985. Tausende Bürger wurden verschleppt und gefoltert. Doch selbst in den schlimmsten Jahren waren die Durchschnittsbürger von Rio de Janeiro deutlich sicherer vor Gewalt als die Angehörigen der Yanomami. Die Yanomami sind eine bäuerliche Stammesgesellschaft, die verstreut in kleinen Dörfern im Amazonas-Regenwald leben. Anthropologische Untersuchungen haben ergeben, dass ein Drittel aller Männer dieses Stammes früher oder später bei gewalttätigen Auseinandersetzungen um Besitz, Frauen oder Prestige ums Leben kommt. 115
    Das Imperium auf dem Rückzug
    Man kann sich sicher darüber streiten, ob die Zahl der Gewaltverbrechen seit 1945 zu- oder abgenommen hat. Aber es ist unbestritten, dass die Zahl der Kriegsopfer auf den niedrigsten Stand aller Zeiten zurückgegangen ist. Das beste Beispiel für dieses neue internationale Klima ist das Ende der großen europäischen Weltreiche. In der Vergangenheit haben Imperien Aufstände mit eiserner Faust unterdrückt, und als ihre Tage gezählt waren, gingen sie in einem Blutbad unter. Das Imperium tat alles, um sich zu retten, und sein Untergang ging mit Chaos und Gemetzel einher. Doch nach 1945 verabschiedeten sich die meisten Imperien friedlich in den Ruhestand. Die Abwicklung erfolgte einigermaßen rasch, ruhig und geordnet.
    Noch im Jahr 1945 beherrschte das Britische Weltreich ein Viertel des Globus. Dreißig Jahre später gehörten den Briten nur noch ein paar verstreute Inseln. In diesen drei Jahrzehnten zogen sie sich aus einer Kolonie nach der anderen zurück, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen gekommen wäre, ohne dass sie mehr als ein paar Tausend Soldaten verloren hätten, und ohne großes Blutvergießen unter der Bevölkerung anzurichten. Zumindest ein Teil des Verdienstes, der Mahatma Gandhi zugesprochen wird, gebührt auch dem Britischen Weltreich. Bei seinem Rückzug hinterließ das Imperium eine Reihe von unabhängigen Staaten, von denen die meisten seither stabile Grenzen genießen und weitgehend friedlich miteinander auskommen. Ja, die britischen Soldaten töteten Zehntausende Menschen, und ja, nach dem Rückzug der Kolonialherren brachen an einigen Brennpunkten Bürgerkriege aus, die Hunderttausende Menschenleben forderten (vor allem in Indien). Aber im historischen Vergleich war der Rückzug der Briten ein Vorbild an Frieden und Ordnung. Das Französische Weltreich erwies sich als störrischer und lieferte sich vor allem in Vietnam und Algerien Rückzugsgefechte, die ungezählte Opfer forderten. Doch aus ihren übrigen Besitzungen zogen sich die Franzosen vergleichsweise schnell und kampflos zurück und hinterließen geordnete Verhältnisse und keine Bürgerkriege.
    Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr 1989 verlief sogar noch friedlicher, auch wenn auf dem Balkan, dem Kaukasus und in Zentralasien Bürgerkriege ausbrachen. Nie zuvor in der Geschichte ist ein derart mächtiges Weltreich so schnell und so geräuschlos verschwunden. Als das Sowjetreich im Jahr 1989 unterging, hatte es außer in Afghanistan keine militärische Niederlage erlitten, es gab keine Invasion von außen, keine Rebellion von innen und keine Bürgerrechtsbewegungen à la Martin Luther King. Die Sowjets verfügten noch immer über Millionen Soldaten, zigtausende Panzer und Flugzeuge und genug Atomwaffen, um die gesamte Menschheit mehrmals auszulöschen. Die Rote Armee und die Streitkräfte der übrigen Staaten des Warschauer Pakts blieben loyal. Hätte Michail Gorbatschow, der letzte Herrscher des Sowjetimperiums, den Befehl dazu gegeben, dann hätte die Rote Armee jederzeit das Feuer auf die demonstrierenden Massen eröffnen können.
    Doch die sowjetische Elite und die kommunistischen Staaten Osteuropas (mit Ausnahme Rumäniens und Serbiens) entschieden sich, ihre militärische Macht ungenutzt zu lassen. Als sie erkannten, dass der Kommunismus am Ende war, verzichteten sie auf Gewalt, räumten ihr Scheitern ein, packten ihre Sachen und gingen nach Hause. Gorbatschow und seine Kollegen zogen sich nicht nur kampflos aus den Gebieten zurück, die die Sowjets im Zweiten Weltkrieg erobert hatten, sondern auch aus den älteren Eroberungen der Zaren im Baltikum, der Ukraine, dem Kaukasus und Zentralasien. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sich

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