Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
aus, dass die Gesellschaftsstruktur für alle Zeiten unveränderbar war. Familien und Gemeinschaften mochten um einen besseren Platz innerhalb dieser Ordnung kämpfen, doch die Vorstellung, dass sich diese Ordnung selbst verändern ließ, war unbekannt. Die Menschen versöhnten sich lieber mit dem Status quo, indem sie sagten: »Das war schon immer so und es wird auch immer so bleiben.«
In den letzten beiden Jahrhunderten verliefen die gesellschaftlichen Veränderungen mit derart rasantem Tempo, dass die Ordnung selbst dynamisch und formbar wurde. Heute befindet sie sich in einem Prozess der permanenten Revolution. Wenn wir von modernen Revolutionen sprechen, dann meinen wir oft die Französische Revolution von 1789, die bürgerlichen Revolutionen von 1848, die Russische Revolution von 1917 oder den Fall der Berliner Mauer 1989. Aber in Wirklichkeit findet inzwischen jedes Jahr eine Revolution statt. Eine 30-Jährige kann heute ungläubigen Jugendlichen ohne jede Ironie erklären: »Als ich jung war, war alles noch ganz anders.« Das Internet kam beispielsweise erst Anfang der 1990er Jahre auf. Obwohl es kaum zwanzig Jahre alt ist, können wir uns heute das Leben ohne Internet gar nicht mehr vorstellen.
Die Eigenschaften der modernen Gesellschaft definieren zu wollen, ist daher so, als wolle man die Farbe eines Chamäleons bestimmen. Was im Jahr 1910 stimmte, traf im Jahr 1960 schon lange nicht mehr zu, und was im Jahr 1960 modern war, war im Jahr 2010 hoffnungslos veraltet. Die einzige Konstante ist die Veränderung. Wir haben uns daran gewöhnt, und die meisten Menschen sind heute der Ansicht, die Gesellschaftsordnung sei flexibel und könne ganz nach unseren Bedürfnissen verändert und optimiert werden. Vormoderne Herrscher versprachen, die bestehende Ordnung zu erhalten oder die Gesellschaft in ein längst vergangenes Goldenes Zeitalter zurückzuführen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten versprechen Politiker dagegen routinemäßig, die alte Welt zu zerstören und eine bessere zu errichten. Selbst die konservativsten Parteien behaupten nicht, alles beim Alten belassen zu wollen. Alle verkünden sie Sozialreformen, Bildungsreformen oder Wirtschaftsreformen, und oft genug lösen sie ihr Versprechen sogar ein.
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Geologen wissen, dass die Bewegung der Erdplatten Erdbeben und Vulkanausbrüche bewirkt. Mit derselben Berechtigung könnte man erwarten, dass derart drastische gesellschaftliche Plattenverschiebungen Gewaltausbrüche provozieren. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wird uns oft als Abfolge von verheerenden Kriegen, schrecklichen Völkermorden und blutigen Revolutionen geschildert. Wie ein Kind, das mit seinen neuen Gummistiefeln von einer Pfütze zur anderen hüpft, springt die Geschichte von einem Blutbad zum nächsten, vom Ersten Weltkrieg zum Zweiten Weltkrieg und von dort direkt weiter zum Kalten Krieg, vom Völkermord an den Armeniern zum Völkermord an den Juden zum Völkermord in Ruanda, von Robespierre zu Lenin zu Hitler.
Das ist war nicht ganz falsch, doch diese vertraute Liste der Katastrophen ist irreführend. Wir schauen zu sehr auf die Pfützen und vergessen die trockenen Strecken dazwischen. Die Spätmoderne hat zwar beispiellose Gewalt und Schrecken erlebt, aber auch Frieden und Sicherheit. Charles Dickens schrieb über die Französische Revolution: »Es war die beste Zeit und es war die schlimmste Zeit.« Das trifft nicht nur auf die Französische Revolution zu, sondern auf das ganze Zeitalter, das sie einläutete.
Vor allem trifft es auf die sieben Jahrzehnte zu, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen sind. In dieser Zeit lief die Menschheit zum ersten Mal Gefahr, sich selbst auszulöschen, und erlebte eine Vielzahl von Kriegen und Völkermorden. Trotzdem waren diese Jahrzehnte die friedlichste Epoche in der Geschichte der Menschheit, und zwar mit großem Abstand. Das ist umso überraschender, als diese Zeit größere wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwälzungen erlebte als jede andere vor ihr. Die Erdplatten der Geschichte bewegten sich in irrwitzigem Tempo, doch die Vulkane blieben weitgehend still. Offenbar verkraftet die neue elastische Ordnung selbst radikale und strukturelle Veränderungen, ohne in Gewalt zu versinken. 110
Friede in unseren Tagen
Vielleicht würden Sie spontan widersprechen, dass wir in einer besonders friedlichen Zeit leben. Keiner von uns war vor tausend Jahren am Leben, und wir vergessen leicht, wie blutig es
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