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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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früher in der Welt zuging. Dazu kommt, dass Gewalt umso mehr Aufmerksamkeit erregt, je seltener sie ist. Viele Menschen denken heute eher an die Kriege in Afghanistan und im Irak, als an den Frieden, in dem die meisten Brasilianer und Inder leben. Wann haben Sie das letzte Mal in den Nachrichten von einem Krieg gehört, der nicht ausbrach, oder von einer Terrororganisation, die nicht gegründet wurde?
    Vor allem bewegt uns der Tod eines einzelnen Menschen oft viel stärker als der ganzer Bevölkerungsgruppen. Auf Facebook geben wir das Foto eines afghanischen Mädchens weiter, das Opfer eines Säureanschlags der Taliban wurde, und verschlingen Berichte über Flugzeugabstürze, bei denen einige Dutzend Menschen ums Leben kamen. Dagegen reagieren wir vergleichsweise abgestumpft auf die Hunderttausenden Opfer des Völkermords von Ruanda oder Darfur. Aber um den großen historischen Bogen zu erkennen, müssen wir uns die großen Katastrophen ansehen. Im Jahr 2000 kamen zum Beispiel 310000 Menschen in Folge von Kriegseinwirkungen ums Leben, und weitere 520000 durch Gewaltverbrechen. Jedes dieser Opfer steht für den Verlust einer ganzen Welt, eine zerstörte Familie und großes Leid für Freunde und Verwandte. Doch diese 830000 Opfer machen lediglich 1,5 Prozent aller Todesfälle des Jahres 2000 aus (in diesem Jahr starben weltweit 56 Millionen Menschen). Im gleichen Zeitraum kamen 1.260000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben (2,25 Prozent aller Todesfälle) und 815000 Menschen (oder 1,45 Prozent) begingen Selbstmord. 111
    Die Zahlen für das Jahr 2002 sind noch erstaunlicher. Von den 57 Millionen Verstorbenen dieses Jahres kamen nur 172000 Menschen durch Kriegsfolgen und 569000 durch sonstige Gewalteinwirkung ums Leben. Dagegen begingen 873000 Menschen Selbstmord. 112 Im Jahr nach den Anschlägen des 11. September starben also trotz aller Schlagzeilen von Terror und Krieg mehr Menschen durch eigene Hand als durch die Hand von Terroristen, Soldaten oder Drogenhändlern.
    In den meisten Teilen der Welt können sich die Menschen schlafen legen, ohne Angst haben zu müssen, mitten in der Nacht von einem feindlichen Stamm aufgeweckt zu werden, der das Dorf umzingelt und alle Bewohner massakriert. Wohlhabende Engländer, die auf der Fahrt von Nottingham nach London durch den Sherwood Forest kommen, müssen sich keine Sorgen machen, unterwegs von Räubern in grünem Wams angehalten, ausgeraubt oder ermordet zu werden. Schüler müssen nicht mit schlotternden Knien in die Schule gehen, aus Angst, dass sie der Lehrer übers Knie legt. Kinder müssen nicht befürchten, von ihren Eltern in die Sklaverei verkauft zu werden, wenn diese ihre Telefonrechnung nicht bezahlen können. Und Frauen wissen, dass das Gesetz sie vor den Schlägen ihrer Ehemänner schützt und dass diese sie nicht zwingen können, zu Hause zu bleiben. Und dieses Gefühl der Sicherheit erfährt weltweit immer mehr Berechtigung.
    Dieser Rückgang der Gewalt ist vor allem der neuen Stärke des Staates zu verdanken. In der Vergangenheit waren vor allem Fehden zwischen Familien und Gemeinschaften für die Gewalt verantwortlich. (Wie die eben erwähnten Statistiken zeigen, sind Gewaltverbrechen vor unserer Haustür bis heute eine größere Bedrohung als internationale Kriege.) Die ersten Bauern, die über ihre kleine Gemeinschaft hinaus keine politischen Organisationen kannten, litten unter einer regelrechten Gewaltepidemie. Damals waren zwischenmenschliche Konflikte für gut 15 Prozent aller Todesfälle verantwortlich, und von 100000 Menschen starben pro Jahr bis zu 400 eines gewaltsamen Todes. 113 Als Königreiche und Imperien an Macht gewannen, legten sie den Gemeinschaften Zügel an und die Gewaltepidemie schwächte sich ab. In den dezentralen europäischen Kleinstaaten des Mittelalters wurden pro Jahr von 100000 Einwohnern zwischen 20 und 40 ermordet. In den letzten Jahrzehnten, in denen Staaten und Märkte allmächtig wurden und die Gemeinschaften verschwanden, ging die Gewalt noch weiter zurück. Heute kommen weltweit auf 100000 Menschen 9 Mordfälle pro Jahr. Die meisten dieser Morde entfallen auf gescheiterte Staaten wie Somalia oder Kolumbien. In Europa liegt der Durchschnitt bei einem Mord pro 100000 Einwohner und Jahr. 114
    Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Staaten ihre Macht missbrauchen und ihre eigenen Bürger töten, doch das ist die Ausnahme. Üblicherweise nutzen Staaten ihre Macht, um ihre Bürger vor Verbrechen und Gewalt zu schützen.

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