Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
haben sie sich nie gefragt, welchen Einfluss das alles auf das Glück der Menschen hat. Das ist die größte Lücke in der Geschichtsschreibung.
Aber obwohl bislang niemand die Geschichte des Glücks erforscht hat, haben die meisten Wissenschaftler und Laien bestimmte Vorstellungen davon. Zum Beispiel hat einer verbreiteten Ansicht zufolge der Mensch im Laufe der Geschichte immer mehr Fähigkeiten erworben, und da wir unsere Fähigkeiten dazu nutzen, um Elend zu beseitigen und unsere Träume zu erfüllen, müssen wir folglich heute glücklicher sein als unsere Vorfahren im Mittelalter, und diese wiederum müssen glücklicher gewesen sein als die Jäger und Sammler der Steinzeit.
Doch dieser Fortschrittsglaube überzeugt nicht. Wie wir gesehen haben, bedeuten neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen noch lange kein besseres Leben. Als die Menschen während der landwirtschaftlichen Revolution lernten, ihre Umwelt nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, verschlechterte sich das Leben der Einzelnen erheblich. Die Bauern mussten mehr arbeiten als die Jäger und Sammler, während sie sich gleichzeitig schlechter ernährten und unter Krankheit und Ausbeutung litten. Ähnlich verhalf die Expansion der europäischen Weltreiche der Menschheit insgesamt zwar zu einem Machtzuwachs, weil Ideen, Technologien und Güter auf neuen Handelsrouten über den gesamten Globus verteilt wurden; doch für Abermillionen von Afrikanern, amerikanischen Ureinwohnern und australischen Aborigines bedeutete das nichts Gutes. Angesichts der langen Geschichte des Machtmissbrauchs durch die Menschen wäre es naiv zu glauben, dass uns Fortschritt automatisch glücklicher macht.
Zivilisationskritiker behaupten daher das genaue Gegenteil: Fortschritt führt ins Unglück. Macht korrumpiert. Mit unseren Erfindungen haben wir uns eine kalte und mechanistische Welt geschaffen, die unseren Bedürfnissen nicht mehr entspricht. In einer Jahrmillionen langen Evolution haben wir uns körperlich und seelisch perfekt an das Leben als Jäger und Sammler angepasst. Der Übergang zur Landwirtschaft und später zur Industrie hat uns einen unnatürlichen Lebensstil aufgezwungen, der unsere Instinkte knebelt und unsere eigentlichen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt. Nichts im angenehmen Leben der städtischen Mittelschicht reicht auch nur im Entferntesten an die wilde Erregung und schiere Freude heran, die eine Gruppe von Jägern bei einer Mammutjagd erlebte. Mit jeder neuen Erfindung entfernen wir uns immer weiter vom Garten Eden.
Doch die Romantiker, die in jedem Fortschritt nur das Schlechte sehen, sind nicht weniger dogmatisch als die naiven Fortschrittsapostel. Mag sein, dass wir uns von unserer menschlichen Natur entfernt haben, aber das hat nicht nur schlechte Seiten. So hat beispielsweise die moderne Medizin die Kindersterblichkeit in den vergangenen zwei Jahrhunderten von 33 auf weniger als 5 Prozent gedrückt. Wer wollte bezweifeln, dass dies ein gewaltiger Beitrag zum menschlichen Glück ist, und zwar nicht nur für die Kinder, die überlebt haben, sondern auch für Eltern, Geschwister und Freunde?
Eine etwas ausgewogenere Sicht wählt einen Mittelweg. Vor der wissenschaftlichen Revolution gab es vermutlich tatsächlich keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Fortschritt und Glück, und die Bauern des Mittelalters führten möglicherweise wirklich ein weniger glückliches Leben als die Jäger und Sammler der Steinzeit. Doch in den letzten Jahrhunderten haben wir gelernt, unsere neuen Fähigkeiten klüger einzusetzen. Die Erfolge der modernen Medizin sind nur ein Beispiel. Weitere noch nicht dagewesene Errungenschaften sind der drastische Rückgang der Gewalt, das weitgehende Verschwinden internationaler Kriege und die Verringerung großer Hungersnöte.
Aber auch das wäre eine starke Vereinfachung. Diese optimistische Sichtweise zieht nämlich nur einen extrem kurzen Zeitraum in Betracht. Die Errungenschaften der modernen Medizin wurden für die meisten Menschen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spürbar, und der drastische Rückgang der Kindersterblichkeit ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Während des Großen Sprungs, der von 1958 bis 1961 dauerte, verhungerten im Kommunistischen China zwischen 10 und 50 Millionen Menschen. Internationale Kriege wurden erst nach 1945 seltener, doch in dieser außergewöhnlich friedlichen Phase sieht sich die Menschheit erstmals der Gefahr der kompletten Auslöschung durch einen Atomkrieg
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