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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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streiten sich über den Besitz eines Weizenfeldes. Jakob behauptet, er habe das Feld vor dreißig Jahren gekauft. Esau erwidert, er habe das Feld vor dreißig Jahren lediglich verpachtet und wolle es nun wieder selbst bestellen. Nach einem hitzigen Wortgefecht und einigen Handgreiflichkeiten begeben sich Jakob und Esau schließlich ins königliche Archiv, wo Zimri-Lim die Besitzurkunden seiner Untertanen aufbewahrt. Im Archiv werden sie von einem Beamten zum anderen geschickt. Während sie warten, trinken sie Kräutertee, und irgendwann bekommen sie die Auskunft, sie möchten doch bitte morgen wiederkommen. Nachdem sich das Spiel am nächsten Tag wiederholt hat, sagt ihnen ein mürrischer Beamter, sie sollten doch selbst suchen. Er führt die beiden in einen riesigen Raum, an dessen Wänden Tausende Tontäfelchen aufgestapelt sind. Können Sie sich diesen Raum vorstellen? Wie um Himmels Willen soll ein Beamter unter all den identischen Tontäfelchen eine dreißig Jahre alte Urkunde finden? Und selbst wenn er sie findet, woher weiß er dann, ob sie das aktuellste Dokument ist, das sich mit dem umkämpften Feld beschäftigt? Und wenn er die Urkunde nicht findet, bedeutet das dann, dass Esau sein Feld nie verkauft hat? Oder nur, dass das Dokument verloren ging oder sich zu Matsch verwandelte, als es einmal in das Archiv regnete?
    Um ein funktionierendes Datenverarbeitungssystem zu schaffen, reicht es ganz offensichtlich nicht aus, ein paar Zahlen in eine Tontafel zu ritzen. Dazu waren Kataloge und Suchsysteme erforderlich, und vor allem pedantische Beamte, die sie benutzten.
    Die Erfindung dieser Systeme erwies sich als schwieriger als die Erfindung der Schrift. Erstaunliche viele Kulturen haben ihr eigenes Schriftsystem hervorgebracht. Immer wieder entdecken Archäologen neue und vergessene Schriften, von denen einige möglicherweise sogar noch älter sind als die sumerische. Doch die meisten davon blieben unbedeutende Kuriositäten, weil ihre Erfinder vergessen haben, ein funktionierendes System zur Katalogisierung und Suche von Informationen zu entwickeln. Was die Sumerer, die alten Ägypter, die alten Chinesen und die Inkas aus der Masse hervorhebt, ist die Tatsache, dass sie effiziente Methoden zur Archivierung, Katalogisierung und Suche ihrer schriftlichen Aufzeichnungen entwickelten. Außerdem richteten sie eigene Schulen für Schreiberlinge, Beamte, Archivare und Buchhalter ein.
    In diesen Schulen wurde hart gebüffelt. Eine 4000 Jahre alte Schreibübung aus Mesopotamien, die von den damaligen Schülern abgeschrieben und von modernen Archäologen ausgegraben wurde, vermittelt einen kleinen Einblick in das Leben der Schüler im Zweistromland:
    Ich kam, setzte mich und mein Lehrer las mein Täfelchen. »Da fehlt etwas!«, sagte er.
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Einer der Aufseher sagte: »Warum hast du ohne meine Erlaubnis den Mund aufgemacht?«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Der Regelbewahrer sagte: »Warum bist du ohne meine Erlaubnis aufgestanden?«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Der Türhüter sagte: »Warum gehst du ohne meine Erlaubnis?«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Der Hüter des Bierkrugs sagte: »Warum hast du ohne meine Erlaubnis Bier getrunken?«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Der Sumerisch-Lehrer sagte: »Warum hast du Akkadisch 47 gesprochen?«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock.
    Mein Lehrer sagte: »Deine Handschrift ist schlecht!«
    Und er schlug mich mit dem Rohrstock. 48
    Die Schreiber lernten nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch den Umgang mit Katalogen, Wörterbüchern, Kalendern, Formularen und Tabellen. Sie lernten Techniken zur Erfassung, Suche und Verarbeitung von Information, die sich ganz erheblich von der Denkweise unseres Gehirns unterscheiden. Im Gehirn ist alles lose miteinander verknüpft. Wenn ich meine Heiratsurkunde suche, denke ich an meine Flitterwochen in Tansania, was mich wiederum an ein Krokodil erinnert, das beinahe meinen Fuß verschlungen hätte, und von da springen meine Gedanken zu Siegfried, dem Drachentöter. Ehe ich mich recht besinne, summe ich das Siegfried-Motiv aus Richard Wagners Ring . In der Bürokratie muss dagegen alles klar auseinandergehalten werden. Es gibt eine Schublade für Heiratsurkunden, eine andere für Steuerbücher und eine dritte für Gerichtsverfahren. Wie sollte man sonst auch irgendetwas wiederfinden? Dinge, die keine eigene Schublade haben – zum Beispiel Drachen –, landen im

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