Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
weitergeben.
Weltreiche produzieren gewaltige Mengen an Information. Und zwar nicht nur Gesetze: Sie müssen über Ausgaben und Einnahmen Buch führen, ein Register über Waffen und Handelsschiffe anlegen und einen Kalender mit ihren Festen und Siegesfeiern aufstellen. Jahrmillionen lang legten Menschen Informationen an einem einzigen Ort ab: in ihrem Gehirn. Leider ist das menschliche Gehirn ein ausgesprochen wackliges Fundament für ein Weltreich, und zwar aus drei Gründen:
Erstens ist seine Speicherkapazität extrem begrenzt. Einige Menschen sind zwar zu erstaunlichen Gedächtnisleistungen imstande und kennen die Topographie ganzer Regionen oder sämtliche Gesetze eines Landes auswendig, doch auch ihr Erinnerungsvermögen hat seine Grenzen. Ein Anwalt kann zwar sämtliche Gesetze präsent haben, aber er kann unmöglich auch noch die Einzelheiten aller jemals geführten Gerichtsverfahren auswendig kennen.
Zweitens stirbt das Gehirn mit seinem Besitzer. Sämtliche Informationen, die in einem Gehirn abgelegt sind, sind also nur ein Menschenleben lang verfügbar. Natürlich lassen sich Erinnerungen mündlich an andere weitergeben, aber nachdem eine Information ein paarmal weitererzählt wurde, ist sie entweder verdreht oder verloren.
Und drittens ist das menschliche Gehirn darauf spezialisiert, ganz bestimmte Arten von Informationen zu speichern und zu verarbeiten. Für das Überleben der Jäger und Sammler war es besonders wichtig, sich an die Formen, Eigenschaften und Verhaltensweisen von Tausenden Tier- und Pflanzenarten zu erinnern. Sie mussten zum Beispiel wissen, dass ein runzliger gelber Pilz, der im Frühherbst unter einer Ulme wächst, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit giftig ist, während ein ganz ähnlicher Pilz, der im Spätherbst unter einer Eiche wächst, vermutlich genießbar ist. Jäger und Sammler mussten sich außerdem an die Ansichten und Beziehungen einiger Dutzend Menschen in ihrer Gruppe erinnern. Lucy musste noch wissen, dass John sich vor ein paar Tagen mit Mary gestritten hat; wenn sie jetzt eine Verbündete gegen John sucht, dann kann sie sich an Mary wenden. Der Selektionsdruck sorgte also dafür, dass sich unser Gehirn Unmengen von botanischen, zoologischen, topographischen und sozialen Einzelheiten merken kann.
Als nach der landwirtschaftlichen Revolution immer komplexere Gesellschaften entstanden, wurde jedoch eine völlig neue Art von Information überlebenswichtig: Daten und Zahlen. Jäger und Sammler mussten sich keine Zahlen merken. Ihnen konnte es egal sein, wie viele Früchte genau an jedem Baum eines bestimmten Waldstücks hingen. Daher lernte das menschliche Gehirn nie, diese Art von Information zu speichern und zu verarbeiten. Doch um ein Weltreich beherrschen zu können, waren Zahlen entscheidend. Es reichte nicht aus, Gesetze zu diktieren und Mythen über Schutzgötter zu erzählen. Die Herrscher mussten auch Steuern eintreiben. Aber um Hunderttausende Menschen besteuern zu können, mussten gewaltige Mengen von Zahlen gespeichert und verarbeitet werden: Informationen über das Einkommen und den Besitz jedes einzelnen Bürgers, und natürlich Angaben über geleistete Zahlungen, Zahlungsrückstände, Steuerschulden und Strafzinsen sowie Stundungen und Ausnahmen. Auf diese Weise kamen gewaltige Datenmengen zusammen, die gespeichert und verarbeitet werden wollten. Ohne diese Informationen hätte ein Staat nie gewusst, über welche Mittel er verfügt und wo er noch Mittel lockermachen konnte. Vor dieser Informationsflut musste das menschliche Gehirn kapitulieren.
Die begrenzte Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns deckelte die Größe und Komplexität der menschlichen Gesellschaften. Nachdem die Zahl der Menschen und ihrer Besitzungen eine bestimmte Größenordnung überschritten hatte, mussten gewaltige Mengen an Information verarbeitet werden. Aber da das menschliche Gehirn dazu außerstande war, brach das System zusammen. Daher blieben die menschlichen Netzwerke in den ersten Jahrtausenden nach der landwirtschaftlichen Revolution noch relativ klein und einfach.
Die Ersten, die eine Lösung für dieses Problem fanden, waren die Sumerer, die zwischen 3500 und 3000 vor unserer Zeitrechnung im Süden Mesopotamiens lebten. Dort brannte die Sonne auf fruchtbare Flusstäler herunter und brachte reiche Ernten und wohlhabende Ortschaften hervor. Doch je größer diese Ortschaften wurden, umso mehr Daten mussten sie bewältigen. Also erfand irgendwann ein unbekanntes Genie
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