Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Sklaven hätten eine »Sklavennatur« und Freie eine »freie Natur«. Ihre gesellschaftliche Stellung sei lediglich ein Ausdruck ihrer wahren Natur.
Rassisten haben immer wieder behauptet, die »Überlegenheit der weißen Rasse« sei eine biologische Tatsache. Weiße seien überlegen, weil sie von Natur aus intelligenter, moralischer und fleißiger seien. Andere argumentieren, Reiche seien den Armen überlegen, weil es objektive Unterschiede bei den Fähigkeiten gebe. Die Reichen seien kompetenter und verdienten daher eine lange Liste von Privilegien, angefangen von einer umfassenderen medizinischen Versorgung über eine bessere Bildung bis hin zu einer vielseitigeren Ernährung.
Gläubige Hindus behaupten, die Hierarchie des Kastenwesens sei von kosmischen Kräften geschaffen worden. Nach dem berühmten Schöpfungsmythos der Hindus schufen die Götter die Welt aus dem Körper eines Urwesens namens Purusa. Die Sonne wurde als Purusas Auge geschaffen, der Mond aus Purusas Gehirn, die Brahmanen (die Priesterkaste) aus seinem Mund, die Kshatriyas (die Kriegerkaste) aus seinen Armen, die Vaishyas (Bauern und Händler) aus den Hüften und die Shudras (Diener) aus den Beinen. Für jemanden, der diese Erklärung glaubt, sind die Unterschiede zwischen Brahmanen und Dienern genauso natürlich wie die zwischen Sonne und Mond. 49 Die alten Chinesen glaubten, als die Göttin Nü Wa die Menschen aus der Erde erschuf, formte sie die Aristokraten aus feiner gelber Erde und die Bauern aus braunem Lehm. 50
Diese Hierarchien entspringen durchweg der menschlichen Fantasie. Natürlich wurden Brahmanen und Sklaven nicht von Göttern aus den verschiedenen Körperteilen eines Urwesens geformt; stattdessen waren es Gesetze und Normen, die Menschen vor rund dreitausend Jahren in Nordindien erfanden. Und es gibt auch keine biologischen Unterschiede zwischen Sklaven und Freien, wie Aristoteles behauptet; vielmehr waren es menschliche Gesetze und Normen, die Menschen zu Sklaven und Herren machten. Und zwischen Schwarzen und Weißen gibt es zwar biologische Unterschiede wie Hautfarbe und Haartyp, aber diese haben nichts mit Intelligenz oder Moral zu tun.
Wir behaupten gern, andere Gesellschaften hätten unnatürliche und lächerliche Hierarchien, während unser Hierarchie natürlich und gerecht sei. So haben wir inzwischen gelernt, dass keine Rasse einer anderen überlegen ist, und entrüsten uns über Gesetze, die es Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppe verbieten, in denselben Stadtteilen zu leben, ihre Kinder an dieselben Schulen zu schicken oder dieselben Krankenhäuser aufzusuchen wie die anderen. Doch die Hierarchie von Arm und Reich, die es Reichen erlaubt, in vornehmeren Stadtteilen zu leben, ihre Kinder auf bessere Schulen zu schicken oder modernere Krankenhäuser aufzusuchen wie Arme, scheint uns vollkommen normal. Und das, obwohl die meisten Reichen nur deshalb reich sind, weil sie in eine reiche Familie geboren wurden, und die meisten Armen nur deshalb ein Leben lang arm bleiben, weil sie aus einer armen Familie stammen.
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Man bekommt beinahe den Eindruck, als bräuchte eine komplexe Gesellschaft Hierarchien und Diskriminierung. Aus moralischer Sicht sind nicht alle Hierarchien gleich, und in manchen Gesellschaften hat die Diskriminierung schrecklichere Formen angenommen als in anderen, doch Wissenschaftler haben bislang keine größeren Gesellschaften gefunden, die ohne Hierarchien ausgekommen wären. Immer wieder stellten die Menschen gesellschaftliche Ordnungen auf, indem sie sich selbst in frei erfundene Kategorien wie Freigeborene, Gemeine und Sklaven; Schwarze und Weiße; Patrizier und Plebejer; Brahmanen und Shudras; Arme und Reiche einteilten. Kategorien wie diese bestimmen die Beziehungen zwischen Millionen von Menschen und sorgen dafür, dass ein Teil der Bevölkerung rechtlich, politisch und gesellschaftlich über einem anderen steht.
Hierarchien übernehmen eine wichtige Funktion. Mit ihrer Hilfe wissen wildfremde Menschen, wie sie einander zu behandeln haben, ohne sich erst lange und umständlich bekannt machen zu müssen. In Bernhard Shaws Pygmalion muss der reiche Henry Higgins keine intime Bekanntschaft mit der armen Eliza Doolittle pflegen, um zu wissen, wie er sich ihr gegenüber zu verhalten hat. Sobald sie den Mund aufmacht, weiß er, dass sie der Unterschicht angehört und er mit ihr tun kann, was er will – zum Beispiel eine Wette abschließen, dass er dieses Blumenmädchen in eine Herzogin
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