Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Papierkorb. Dinge, die sich in mehr als eine Schublade einsortieren lassen (fallen Wagner-Opern unter »Musik«, »Theater« oder in eine ganze neue Sparte?), bereiten Kopfzerbrechen. Deswegen müssen fortwährend neue Schubladen hinzugefügt und alte ausgemistet oder umsortiert werden.
Damit das System funktioniert, müssen die Hüter der Schubladen so umprogrammiert werden, dass sie nicht mehr wie Menschen denken, sondern wie Beamte und Buchhalter. Seit frühesten Zeiten weiß jeder, dass Beamte und Buchhalter nicht wie Menschen denken. Sie denken wie Aktenschränke. Dafür können sie aber nichts: Sie müssen so denken. Andernfalls würden sämtliche Schubladen durcheinandergeraten und es wäre völlig unmöglich, Städte und Königreiche zu verwalten. Das ist vielleicht die wichtigste Auswirkung der Schrift auf die Geschichte der Menschheit: Ganz allmählich veränderte sie die Denkweise und Weltsicht der Menschen. Freie Assoziation und ganzheitliches Denken mussten Bürokratie und Kästchendenken weichen.
Die Sprache der Zahlen
Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Unterschied zwischen der bürokratische Datenverarbeitung und der natürlichen menschlichen Denkweise immer größer. Ein entscheidender Schritt kam vor dem neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit der Erfindung eines neuen partiellen Schriftsystems, das mathematische Daten mit beispielloser Effizienz verarbeiten konnte. Dieses Schriftsystem bestand aus zehn Zeichen, die für die Zahlen von 0 bis 9 standen, und wurde als »arabisches Ziffernsystem« bezeichnet. In Wirklichkeit waren es die Inder, die diese Ziffern erfunden hatten. Die Araber entdeckten diese Schrift nach ihrer Eroberung des Subkontinents, brachten sie in den Nahen Osten, von wo aus sie schließlich auch nach Europa kam. Als später weitere Zeichen hinzugefügt wurden (zum Beispiel für Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division), war die mathematische Schrift geboren.
Obwohl die mathematische Schrift immer ein partielles Schriftsystem blieb, hat sie sich zur vorherrschenden Weltsprache entwickelt. Fast alle Staaten, Unternehmen, Organisationen und Einrichtungen verwenden mathematische Zeichen, um Daten zu speichern und zu verarbeiten, und zwar unabhängig davon, ob sie Arabisch, Bengalisch, Englisch oder Norwegisch sprechen. Jede Information, die sich in die mathematische Schrift übersetzen lässt, wird mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Effizienz verarbeitet. Und jede Information, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht in die mathematische Schrift übersetzen lässt, wird ignoriert oder vergessen.
Wer Einfluss auf die Entscheidungen von Regierungen, Organisationen und Unternehmen nehmen will, muss daher lernen, in Zahlen zu sprechen. Experten tun alles, um selbst Vorstellungen wie »Armut«, »Glück« oder »Ehrlichkeit« in die Zahlensprache zu übersetzen (zum Beispiel als »Tagesverdienst«, »subjektives Wohlbefinden« oder »Kreditwürdigkeit«). Ganze Wissensgebiete wie die Physik oder die Ingenieurwissenschaften haben sich nahezu vollständig von der gesprochenen Sprache gelöst und finden fast ausschließlich in mathematischer Schrift statt.
Diese Gleichung berechnet die Beschleunigung einer Masse i unter Einwirkung der Schwerkraft, und zwar nach den Gesetzen der Relativitätstheorie. Wenn Laien Gleichungen wie diese sehen, verfallen sie in der Regel in eine Schreckstarre, wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos. Das ist eine völlig natürliche Reaktion und hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Die Evolution hat den Menschen nicht beigebracht, so zu denken. Wer jedoch die Relativitätstheorie verstehen möchte, muss traditionelle Denkweisen hinter sich lassen und lernen, mit Hilfe mathematischer Symbole zu denken.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die mathematische Schrift ein weiteres revolutionäres Schriftsystem hervorgebracht, nämlich ein binäres Zeichensystem, das nur noch aus zwei Zeichen besteht: 0 und 1. Die Wörter, die ich gerade auf meiner Tastatur tippe, werden von meinem Computer in Reihen von Nullen und Einsen übersetzt.
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Die Schrift wurde als Dienstmagd des menschlichen Bewusstseins geboren, doch sie schwingt sich zunehmend zu dessen Herrin auf. Unseren Computern fällt es schwer, die Sprache, Gefühle und Träume des Homo sapiens in ihre Sprache aus Nullen und Einsen zu übersetzen.
Aber damit ist das Ende der Geschichte noch längst nicht erreicht. Das Forschungsgebiet der »künstlichen
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