Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
einen Hut zu bringen und dabei immer größere Teile der Menschheit und des Planeten zu vereinen.
Wir sollten noch einmal unterstreichen, dass sich ein Imperium ausschließlich über seine kulturelle Vielfalt und seine flexiblen Grenzen definiert, nicht über seine Ursprünge, seine Staatsform, seine Größe oder die Zahl seiner Einwohner. Ein Imperium muss zum Beispiel nicht das Ergebnis von Eroberungszügen sein: Das Reich der Athener begann als freiwilliger Zusammenschluss und das Reich der Habsburger wurde durch eine geschickte Heiratspolitik geschmiedet. Ein Imperium muss auch nicht unbedingt von einem Alleinherrscher geführt werden: Das Britische Weltreich, das größte Imperium der Geschichte, wurde von einem halbwegs demokratisch gewählten Parlament regiert. Auch die modernen Reiche der Niederländer, Franzosen, Belgier und Vereinigten Staaten waren mehr oder weniger demokratisch, genau wie die antiken Imperien von Nowgorod, Rom, Karthago und Athen.
Auch die Größe spielt keine Rolle. Imperien können winzig sein. Auf seinem Höhepunkt nahm das Reich von Athen nicht einmal den Raum des heutigen Griechenlands ein und hatte weniger Einwohner. Das Reich der Azteken war nicht einmal halb so groß wie das heutige Mexiko. Doch anders als die modernen Staaten, die ihnen nachfolgten, waren beides Imperien, da sie im Laufe der Zeit Dutzende oder gar Hunderte verschiedene Staaten und Ethnien unter ihre Herrschaft brachten. Die Athener regierten über mehr als hundert einst unabhängige Stadtstaaten, und wenn man den Steuerbüchern der Azteken glauben darf, dann herrschten sie mit ihrem Reich über 371 verschiedene Stämme und Völker. 63
Wie war es möglich, dieses menschliche Potpourri in das Territorium eines bescheidenen modernen Staates zu zwängen? Es war deshalb möglich, weil es in der Vergangenheit deutlich mehr Völker gab, die weniger Angehörige und kleinere Territorien hatten als heutige Völker. In der Region zwischen der Mittelmeerküste und dem Jordan, die heute mit Ach und Krach die Bedürfnisse zweier Nationen befriedigt, fanden zu biblischen Zeiten spielend Dutzende Völker, Stämme, kleine Königreiche und Stadtstaaten Platz.
Wenn sich die menschliche Vielfalt derart drastisch verringert hat, dann liegt das auch an den Weltreichen. Mit ihrer imperialen Dampfwalze ebneten sie die Unterschiede zwischen den Völkern ein und schufen so neue und immer größere Gruppen.
Reich des Bösen?
Weltreiche genießen heutzutage keinen allzu guten Ruf. Im Lexikon der politischen Schimpfwörter kommt »Imperialist« gleich nach »Faschist«. Sie werden vor allem aus zwei Gründen kritisiert:
1. Imperien funktionieren nicht. Auf lange Sicht ist es unmöglich, eine große Zahl unterworfener Völker zu beherrschen.
2. Und selbst wenn es möglich wäre, dann ist es wenig ratsam, da Imperien sowohl die Eroberer als auch die Eroberten korrumpieren. Jedes Volk hat ein Recht auf freie Selbstbestimmung und seinen eigenen Staat.
Aus historischer Sicht ist die erste Aussage unsinnig und die zweite mindestens fragwürdig.
In Wirklichkeit war das Imperium während der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende die vorherrschende Staatsform. Die allermeisten Menschen lebten in irgendeinem Weltreich. Es handelt sich auch um eine ausgesprochen stabile Staatsform. Den meisten Imperien fiel es erschreckend leicht, sämtliche Aufstände niederzuschlagen; wenn sie zu Fall kamen, dann meist nur durch eine Invasion von außen oder eine Spaltung der herrschenden Elite. Umgekehrt befreiten sich die allermeisten unterworfenen Völker nie aus der Herrschaft durch ihre Unterdrücker. Sie blieben jahrhundertelang unterjocht und wurden allmählich vom Imperium vereinnahmt, bis ihre eigenständige Kultur verschwand.
Als beispielsweise das Weströmische Reich um das Jahr 476 unter dem Ansturm der germanischen Stämme zusammenbrach, kehrten die Numantier, Arverner, Helvetier, Samniter, Lusitanier, Umbrier, Etrusker und Hunderte andere Völker nicht wieder aus den Ruinen des Reichs zurück wie Jonas aus dem Bauch des Wals. Die Nachfahren dieser Völker hatten die Sprachen und Götter ihrer Vorfahren längst vergessen und sprachen, dachten und beteten wie Römer.
Oft bedeutete der Untergang eines Imperiums keineswegs die Freiheit für die unterjochten Völker. Stattdessen füllte ein neues Reich das Machtvakuum. Das wird nirgends so deutlich wie im Nahen Osten. Die heutige politische Situation in der Region – ein Kräftegleichgewicht
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