Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
zwischen zahlreichen unabhängigen Staaten mit mehr oder weniger festen Grenzen – ist in der jüngeren Geschichte völlig beispiellos. Zuletzt erlebte der Nahe Osten eine ähnliche Situation im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung – also vor fast 3000 Jahren! Vom Aufstieg des Neuassyrischen Reichs im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum Untergang der Britischen und Französischen Kolonialreiche Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Nahe Osten von einem Imperium zum anderen weitergereicht wie ein Staffelstab. Und als die Briten und Franzosen den Stab schließlich fallen ließen, waren die Aramäer, Amoniter, Phönizier, Philister, Moabiter, Edomiter und all die anderen Völker, die einst von den Assyrern unterworfen worden waren, längst verschwunden.
Natürlich nehmen die heutigen Juden, Armenier und Georgier mit gewissem Recht für sich in Anspruch, die Nachfahren von früheren Völkern des Nahen Ostens zu sein. Doch sie sind die Ausnahme, und selbst ihre Ansprüche sind weit überzogen. Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der heutigen Juden verdankt sich viel eher den Weltreichen, unter denen sie in den letzten beiden Jahrtausenden lebten, als dem antiken Königreich Juda. Wenn König David in einer ultraorthodoxen Synagoge im heutigen Jerusalem vorbeischauen würde, dann wäre er sicher verwundert über die Menschen in osteuropäischer Kleidung, die einen deutschen Dialekt (Jiddisch) sprechen und endlose Auseinandersetzungen um die Bedeutung eines babylonischen Texts (des Talmuds) führen. Im antiken Juda gab es weder Synagogen, noch den Talmud und noch nicht einmal Torahrollen.
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Der Aufbau und Erhalt eines Imperiums ging meist mit Blutvergießen und Unterdrückung einher. Krieg, Versklavung, Verschleppung und Völkermord zählen seit jeher zum Handwerkszeug der Weltreiche. Als die Römer im Jahr 83 in das heutige Schottland vordrangen und auf heftigen Widerstand der Kaledonier stießen, verwüsteten sie das Land kurzerhand. In seiner Antwort auf ein Friedensangebot bezeichnete der kaledonische Häuptling Calgacus die Römer als »Schläger der Welt« und schimpfte: »Um zu plündern, zu morden und zu rauben, geben sie sich den verlogenen Namen eines Imperiums. Sie hinterlassen eine Wüste und nennen sie Frieden.« 64
Was nicht heißen soll, dass Weltreiche nur Schaden anrichten. Wer alle Imperien in Bausch und Bogen verdammt und ihr Erbe verteufeln wollte, müsste den Großteil der menschlichen Kultur verdammen und verteufeln. Mit der Beute aus den Eroberungen finanzierten die Eliten der Imperien nicht nur Armeen und Festungen, sondern auch Philosophie, Kunst und Recht. Ein erheblicher Teil der großen Kunstwerke der Menschheit verdankt seine Existenz der Ausbeutung unterworfener Völker. Die Früchte des römischen Imperialismus nährten die Gedanken von Cicero, Seneca und Augustinus von Hippo, die Erträge des Mogulreichs flossen in den Bau des Taj Mahal, und die Steuern aus dem Reich der Habsburger bezahlten die Gehälter von Mozart und Hayden. Dass Calgacu s ’ Wutrede überliefert wurde, haben wir übrigens dem römischen Historiker Tacitus zu verdanken. Die meisten Wissenschaftler sind sich heute einig, dass es den kaledonischen Häuptling Calgacus gar nicht gab, sondern dass Tacitus ihn erfand, um die römische Oberschicht zu kritisieren.
Selbst wenn wir die »Hochkultur« beiseitelassen und uns den Alltag der normalen Menschen ansehen, finden wir in den meisten modernen Kulturen Überreste des imperialen Erbes. Heute sprechen, denken und träumen wir in Sprachen, die unseren Vorfahren mit dem Schwert aufgezwungen wurden. Die meisten Ostasiaten sprechen die Sprache des Han-Reichs. Die meisten Bewohner des amerikanischen Doppelkontinents verständigen sich in einer von vier Kolonialsprachen: Spanisch, Portugiesisch, Französisch oder Englisch. Die modernen Ägypter sprechen Arabisch, halten sich für Araber und identifizieren sich mit dem Arabischen Reich, das Ägypten im 7. Jahrhundert eroberte und die wiederholten Aufstände gegen seine Herrschaft mit eiserner Faust niederschlug. Rund 10 Millionen Zulus in Südafrika erinnern sich an das Goldene Zeitalter der Zulus im 19. Jahrhundert, auch wenn sie mehrheitlich von Stämmen abstammen, die damals erbitterten Widerstand gegen das Zulu-Reich leisteten und in blutigen Feldzügen unterworfen wurden.
Wir wollen nur euer Bestes
Das erste Imperium, von dem wir definitiv Kenntnis haben, war das Akkadische
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