Eine kurze Weltgeschichte fuer junge Leser
Eines Sonntags, als sie
während einer Wanderung im Wienerwald eine Pause einlegten – »vielleicht saßen wir
auf einer sonnigen Lichtung im Gras oder auf einem umgefallenen Baumstamm«, erinnert
sich meine Großmutter –, zog mein Großvater ein Bündel Papiere aus seiner Brusttasche,
und fragte: »Darf ich dir mal etwas vorlesen?«
»Es war schon besser, dass er es vorlas. Weißt du«, sagt meine Großmutter
heute, »schon damals hatte er eine fürchterliche Handschrift.«
Bei diesem »Etwas« handelte es sich natürlich um die Kurze Weltgeschichte . Offensichtlich gefiel meiner
Großmutter, was sie hörte, und diese Vorlesestunden setzten sich die folgenden
Wochen fort, bis das Buch abgeschlossen war: Mein Großvater lieferte das
Manuskript pünktlich bei Walter Neurath ab. Liest man den Text einmal laut, so
ist zu spüren, auf welch wunderbare Art dieses Vorlesen den Ton des Buches
geprägt hat, und die Widmung lässt ahnen, wie sehr mein Großvater diese Stunden
schätzte. Für die Illustrationen wurde ein ehemaliger Reitlehrer engagiert, der
die Zeichnungen für fünf Schilling pro Stück anfertigte. Mein Großvater wies
immer gerne darauf hin, dass die vielen Pferde auf den Bildern so viel besser
gezeichnet sind als die Menschen.
Als das Buch dann 1936 erschien, wurde es sehr positiv aufgenommen,
und die Rezensenten meinten, dass mein Großvater ein erfahrener Lehrer sein
müsse. Bereits nach Kurzem wurde es in fünf Sprachen übersetzt, aber da waren
meine Großeltern schon in England, wo sie auch blieben. Bald verboten die
Nationalsozialisten das Buch, nicht aus antisemitischen Gründen, sondern weil
sie den Ausblick für zu pazifistisch hielten.
Doch sollte dies noch nicht das Ende der Kurzen Weltgeschichte sein. Einige Jahre nach Ende des Krieges gelang es meinem Großvater, die
Rechte an seinem Buch zurückzuerhalten, aber die Welt, in der er sein kleines Buch
geschrieben hatte, schien nun sehr weit weg zu sein. Lange Jahre geschah gar nichts,
bis er dann mehr als 30 Jahre später eine Anfrage vom DuMont Verlag erhielt. So
erschien 1985 die zweite deutsche Ausgabe mit einem neuen Schlusskapitel. Und wieder
freute sich mein Großvater über den Erfolg des Buches und die zahlreichen Übersetzungen.
Begeistert schneiderte er unterschiedliche Ausgaben für die Leser verschiedener
Nationen zurecht und hörte sich immer die Anmerkungen der Übersetzer sehr aufmerksam
an. Gegen eine Übersetzung aber erhob er Einspruch. Außer der Kurzen Weltgeschichte hatte mein Großvater alle seine Bücher
in englischer Sprache geschrieben. Sollte es jemals eine englische Ausgabe der Kurzen Weltgeschichte geben, bestand er darauf, selbst die Übersetzung
anzufertigen. Zehn Jahre lang weigerte er sich, sie ins Englische zu übersetzen,
obwohl er wiederholt darum gebeten worden war. Dieser Widerstand lag nicht nur daran,
dass er zu viel zu tun hatte. Er fand außerdem, dass sich englische Geschichte immer
nur um englische Könige und Königinnen drehe. – Könnten englische Kinder
überhaupt etwas mit einer europäischen Perspektive anfangen?
Erst die Ereignisse der 1990er Jahre und die wachsende Bedeutung der
Europäischen Union überzeugten ihn schließlich, dass es sie vielleicht doch
interessieren könnte.
So machte er sich am Ende seines langen und erfüllten Lebens daran,
eine englische Fassung seines allerersten Buches zu erstellen.
Kurz nachdem er mit der Übersetzung begonnen hatte, sagte er leicht
überrascht zu mir: »Ich habe mir meine Kleine Weltgeschichte noch einmal vorgenommen, und da steckt wirklich viel drin. Weißt du, ich
glaube, sie ist gut!« Natürlich nahm er kleine Korrekturen vor, fügte neue
Informationen über den prähistorischen Menschen ein, bat seinen Sohn, meinen
Vater, der ein Spezialist für frühen Buddhismus ist, das 10. Kapitel zu
verbessern.
Als er 2001 im Alter von 92 Jahren starb, war er noch immer mit der
englischen Übersetzung beschäftigt. So soll ihm nun das letzte Wort gehören:
»Ich möchte betonen«, schrieb er vor einigen Jahren im Vorwort zur türkischen
Ausgabe, »dass dieses Buch nicht dazu gedacht ist und nie dafür gedacht war,
ein Geschichtsbuch zu ersetzen, das in der Schule ganz anderen Zwecken dient.
Ich möchte, dass sich meine Leser entspannen und der Geschichte folgen, ohne sich
Notizen machen oder Namen und Daten merken zu müssen. Ich verspreche auch, dass
ich sie nicht abfragen werde.«
Leonie Gombrich
Es war einmal
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