Eine Lady nach Maß
Materialien mitgebracht. Außerdem wäre es eine hübsche Abwechslung, wenn sie endlich einmal für Menschen schneiderte, die der gleichen Gesellschaftsschicht wie sie selbst angehörten, Frauen, mit denen sie sich unterhalten und Freundschaften schließen konnte. Vielleicht sogar mit Mr Tuckers Schwester.
Hannah warf dem grimmigen Mann neben sich einen verstohlenen Blick zu. Er war nicht sehr freundlich, aber das musste ja nicht bedeuten, dass auch seine Schwester kurz angebunden war. Aber vielleicht wäre auch sie verstimmt, wenn sie herausfand, dass das Geschäft, das in ihren Familienbesitz übergehen sollte, nun jemand anderem gehörte.
Die Pferde wurden langsamer. Hannahs Gedanken verflogen im Nu, denn sie war angekommen.
Hannahs Herz hüpfte. Ihr Blick wanderte über das Gebäude, das ihre Zukunft bedeutete. Es hatte eine schöne Vorderfront und große Fenster, die in Richtung Straße zeigten. Sofort kamen ihr Ideen, wie sie ihre Puppen kleiden und anordnen könnte, in den Sinn. Vielleicht den lavendelfarbenen Morgenmantel oder das olivfarbene Kostüm. Die Kleider waren zwar nach der neusten Mode geschneidert, aber nicht zu pompös oder unpraktisch für Frauen, die arbeiten mussten. Keine Schärpen oder Rüschen, die im täglichen Leben behindern konnten. Keine Schleppen, die man durch den Straßenstaub einer texanischen Kleinstadt ziehen musste. Wenig Seide oder andere Stoffe, die man in einer Westernstadt nicht gebrauchen konnte.
„Soll ich Ihnen jetzt helfen oder nicht?“
Hannah fuhr bei der kurz angebundenen Frage zusammen. „Oh, natürlich.“ Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie erhob sich und legte eine Hand auf Mr Tuckers Schulter. Sie konnte es nicht vermeiden, seine Muskeln und den starken Griff um ihre Hüfte zu spüren. Ihr Gesicht wurde noch heißer. Diese Nähe … Sie konnte einen leichten Geruch nach Leder und nach Pferden an ihm wahrnehmen. Der Duft eines arbeitenden Mannes.
„Danke.“ Sie vermied es, ihn anzuschauen, und kramte stattdessen in ihrer Handtasche. „Ich suche den Schlüssel.“
Hannah zog einen kleinen Schlüssel hervor und trat auf den hölzernen Bürgersteig. Vor der Tür hielt sie inne und presste eine zitternde Hand auf ihren Magen. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, steckte sie den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehte ihn. Ein verheißungsvolles Klicken ertönte und die Tür öffnete sich.
Als Hannah den Laden betrat, erkannte sie sofort, welche Möglichkeiten sich auftaten. Trotz des Staubes, der sich in den vergangenen Monaten angesammelt hatte, sah sie innerlich schon den fertig eingeräumten Laden vor sich. An der linken Wand stand eine Theke. Dort würde sie ihre Kataloge und Modemagazine auslegen. An den Wänden würde sie Regale anbringen, in denen die verschiedenen Stoffballen nach Farben sortiert wären, damit ihre Kunden genug Auswahl hatten. Die fertigen Kleider könnten an der hinteren Wand drapiert werden, damit die Kundinnen sie sich genau ansehen könnten.
Hannahs Schritte klangen dumpf auf den Holzdielen, als sie den Raum durchquerte. Sie war glücklich, als sie eine kleine Abstellkammer entdeckte, in der sie ihr Nähzubehör aufbewahren konnte. Der Raum erschien ihr sogar groß genug, um darin ihre Nähmaschine aufzubauen.
Ja, dieses kleine Geschäft war perfekt für sie.
Hinter ihr erklangen Schritte. Sie wandte sich um und sah Tom und Mr Tucker, jeder mit einem ihrer Koffer auf der Schulter.
„Wenn Sie damit fertig sind, Löcher in die Luft zu starren, könnten Sie uns vielleicht sagen, wohin die Sachen sollen“, grummelte Mr Tucker.
Wahrscheinlich hatte er recht, so ungehalten zu sein. In ihrer Aufregung hatte sie die Männer völlig vergessen. Jetzt war sie froh, dass sie daran gedacht hatte, die Koffer zu markieren. Farbige Stoffstreifen zeigten jeweils an, was sich in den Koffern befand.
„Lassen Sie mich sehen.“ Sie ging auf die Männer zu und zog an dem Band neben Mr Tuckers Hand, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. „Die Koffer mit dem blauen Tuch bleiben hier unten. Die mit den rosa Streifen kommen nach oben in meinen Privatbereich.“
Hannah hob ihren Kopf und begegnete Mr Tuckers Blick. Plötzlich fiel es ihr schwer, zu atmen.
„Welche Farbe habe ich, J.T.? Ich kann’s nicht sehen.“
Mr Tucker wandte den Blick ab. Hannah atmete tief ein, ihr Magen rebellierte noch mehr als vorhin. Dieser Mann war so liebenswürdig und charmant wie ein Kaktus. Nur weil er honigfarbene Augen hatte, sollte
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