Eine Lüge macht noch keine Liebe! (German Edition)
Abwesenheit ein solches Gefühl der Leere und Enttäuschung hinterließ.
Da sie keine Lust hatte, für sich zu kochen, aß sie meistens einen kleinen Snack in Micheles Pub. An einem dieser trüben Nachmittage hörte sie zum ersten Mal die Worte „acqua alta“ fallen und fragte nach.
„Was ist denn mit dem Hochwasser?“
„Es kommt, bald“, war die einsilbige Antwort des älteren Mannes, der ihr am nächsten saß. Michele sah ihren fragenden Blick und erklärte es ihr.
„Es hat die ganze letzte Woche viel geregnet. Das ist zwar gut für die Wasserreserven, aber es war zu viel über zu lange Zeit. Und es hat nicht nur hier in der Ebene geregnet, sondern auch am Oberlauf des Po und im Gebirge. Sie fürchten alle, dass ein Hochwasser kommen könnte, wie wir es schon lange nicht mehr gehabt haben.“
„Ich hatte immer gedacht, die gefährlichste Jahreszeit für Hochwasser sei das Frühjahr, wenn die Schneeschmelze kommt! Hochwasser im Herbst?“
„Ja, weißt du, der Schnee schmilzt meistens eher nur langsam ab, das kann der Fluss verkraften. Aber wenn es dermaßen regnet wie in den letzten Tagen, dann steigt der Wasserstand. Schlecht ist es dann, wenn im Herbst auch die Stürme vom Meer her kommen und das Wasser im Fluss noch zusätzlich aufstauen, weil dadurch die Flut höher ist als normal.“
„Heißt das, der Fluss könnte überlaufen?“
„Das wollen wir nicht hoffen, aber in den Zeitungen schreiben sie schon davon. Die zuständigen Behörden lassen angeblich schon Sandsäcke vorbereiten.“
„Ja – aber wenn das Wasser kommt, sind wir hier dann auch gefährdet?“ Im Geiste sah sie sich schon mit Eimern Wasser aus dem Keller schöpfen.
„Wir hier nicht so sehr, weil wir auf einer ganz kleinen Erhöhung liegen."
Ja, ja, dachte Lara bei sich, die alten Fürsten wussten schon, wohin sie ihre Schlösser bauen mussten.
„Aber auf der anderes Seite drüben“, erklärte Michele weiter, „im Veneto, da ist der Damm ein paar Zentimeter niedriger als hier bei uns. Für uns ist das natürlich gut, denn wenn der Damm hier nicht hält, könnte das Wasser theoretisch bis nach Ferrara laufen, weil es kein natürliches Hindernis mehr hat.“
Er kam hinter der Theke hervor und bedeutete Lara, mitzukommen. Er führt sie zu einer Deltakarte neben der Eingangstür, die sie schon öfter gedankenlos betrachtet hatte.
„Dieses Gebiet hier“, er zeigte auf eine Fläche zwischen zwei Flussarmen, „ist eigentlich eine riesige Insel, siehst du?“
Sie erkannte, was er meinte.
„Soll das heißen, man lässt das Wasser da drüben überlaufen, um diese Gegend hier zu schützen?“ fragte sie mit ungläubigem Staunen.
„Na ja, mehr oder weniger. Da gibt es so gut wie nichts, außer ein paar Bauernhöfen. Die müssten dann rechtzeitig evakuiert werden. Ist zwar bitter für die Menschen, aber der Schaden wäre wesentlich geringer, als wenn das Gebiet südlich des Po di Goro unter Wasser stünde.“
„Ist das schon jemals passiert?“
„Ja, aber es ist so lange her, dass sich fast keiner mehr daran erinnert.“
Lara studierte eingehend die Karte vor sich an der Wand.
„Dammbruch von 1953“, las sie. Und „Dammbruch von 1894“ – Noch mehr Stellen, an denen der Fluss sein Bett unkontrolliert verlassen hatte, waren verzeichnet. Ihr wurde mulmig.
„Denkt man denn, dass es so schlimm werden könnte?“
„Das kann man noch nicht so genau sagen, die wissen selber auch erst in ein paar Stunden mehr. Hoffentlich werden wir dann wenigstens rechtzeitig informiert!“
Lara setzte sich wieder hin. Das waren ja Aussichten! Sie hätte mit Valerie nach Hause fahren sollen, schoss es ihr spontan durch den Kopf, was tat sie eigentlich hier? Solange die Sonne schien, war alles schön und gut, aber bei diesem Wetter konnte man hier wirklich Depressionen bekommen! Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen und ihre Sachen zu packen, doch dann schämte sie sich vor sich selbst. Reiß dich zusammen und sei keine Zimperliese, schalt sie sich. Und außerdem muss doch irgendwer auf das Haus aufpassen, oder?
Ehe sie nach Hause ging, stieg sie die Uferböschung hinauf und versuchte, in der beginnenden Dunkelheit noch Einzelheiten zu sehen. Der Fluss, der sonst so ruhig und träge in seinem Bett dahin floss, hatte eine atemberaubende Geschwindigkeit erreicht, soviel konnte sie erkennen. Er war auch viel breiter als sonst und schien sehr viel Treibgut mit sich zu führen. Sie fror und kehrte um.
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