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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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und stempelten Wettscheine. An den anderen Wänden hingen
die Rennseiten der Tageszeitungen, schwarze Plastikstühle standen bereit, auf
denen die Wetter sich niederlassen konnten, um die Form der Gäule zu studieren,
ihre eigene Wahl zu treffen oder sich für die Wahl der Tipgeber zu entscheiden.
Im Raum waren etwa fünfzehn Kunden, alles Männer. Sie saßen oder standen herum,
beschäftigten sich ernsthaft mit Problemen des Geläufs und des Gewichts der
jeweiligen Jockeys und horchten auf die Lautsprecherdurchsagen, die alle paar
Minuten Meldungen direkt von den Bahnen brachten. Morse setzte sich und starrte
unkonzentriert auf eine Seite des Sporting Chronicle. Rechts von ihm
drehte ein modisch gekleideter Chinese den Knopf eines an der Wand angebrachten
Automaten und riß einen Wettschein ab. Aus dem Augenwinkel sah Morse, was er
schrieb: «15.35 Uhr Newmarket. 20 Pfund auf Sieg, Fiddler.» Er beobachtete den
Chinesen, der jetzt mit vier knisternden Fünf-Pfund-Noten in der Hand an den
Zahlschalter trat, und die junge Frau hinter dem Gitter, die mit dem
abgeklärten Gleichmut einer buddhistischen Gottheit das Opfer entgegennahm.
Zwei Minuten später ließ sich der Lautsprecher wieder vernehmen, ohne
Begeisterung meldete eine unpersönliche Stimme den Start, nach kurzem Schweigen
die Reihenfolge der Läufer an der Halbmeilen-Marke, dann den Sieger, den
Zweiten, den Dritten. Fiddler war nicht dabei. Morse, der als Junge noch die
mitreißenden Rennkommentare von Raymond Glendenning erlebt hatte, fand die
Ansage entsetzlich nüchtern. Sie klang so unbeteiligt, als würde bei Sotheby’s
ein Cézanne versteigert.
    Der Chinese setzte sich wieder neben Morse und
zerriß zierlich, als übe er sich in der Kunst des Origami, seinen Wettschein in
kleine Stücke.
    «Kein Glück gehabt?» fragte Morse vorsichtig.
    «Nein», erwiderte der Chinese mit
höflich-orientalischem Nicken.
    «Haben Sie manchmal Glück?»
    «Manchmal.» Wieder das halbe Lächeln, das
leichte Nicken.
    «Kommen Sie oft her?»
    «Ja, oft.» Und, wie als Antwort auf Morses
fragenden Blick: «Sie glauben, ich reicher Mann?»
    Morse gab sich einen Ruck. «Ich hab mal einen
gekannt, der war fast jeden Tag hier. Josephs hieß er. Hat einen braunen Anzug
getragen. Um die fünfzig.»
    «Jetzt hier?»
    «Nein. Er ist vor einem halben Jahr ums Leben
gekommen, Ermordet worden, der arme Kerl.»
    «Ah. Sie meine Harrii. Ja. Armer Harrii. Ich ihn
gekannt. Wir oft reden. Er ermordet, ja. Ich traurig. Sehr.»
    «Ich habe gehört, daß er manchmal ganz schön
abgesahnt hat. Na ja, Glück muß der Mensch haben.»
    «Sie irren sich. Harrii sehr viel Pech. Er immer
nicht ganz da.»
    «Sie meinen, er hat eine Menge Geld verloren?»
    Der Chinese zuckte die Schultern. «Vielleicht er
reicher Mann.» Die Schlitzaugen richteten sich auf die 16-Uhr-Karte von
Newmarket, automatisch ging die Rechte zum Drehknopf.
    Wahrscheinlich hatte Josephs ziemlich regelmäßig
verloren, und zwar mehr, als er sich mit seiner Arbeitslosenunterstützung
leisten konnte. Aber irgendwo, irgendwie war er zu Geld gekommen.
    Morse überlegte, ob er auch etwas auf die
nächste Wahl des Chinesen setzen sollte, aber so bemüht er auch schielte, er
konnte den Namen nicht erkennen. Nachdenklich ging er hinaus, und das war
schade, denn wenige Minuten, nachdem Morse seine Wohnungstür aufgeschlossen
hatte, stand der kleine Chinese mit einem gar nicht besonders unergründlichen
Lächeln am Gewinnausgabeschalter. Mit der englischen Syntax mochte er noch auf
Kriegsfuß stehen, aber sein Ausspruch war als Epitaph auf Harry Josephs gar
nicht so unpassend: «Er immer nicht ganz da.»
     
     
     

15
     
    «Nein, tut mir leid, Inspector, da haben Sie
Pech.» Es war zehn nach sieben. Mrs. Lewis ließ sich nicht gern bei den Archers stören und wünschte, Morse würde entweder hereinkommen oder wieder gehen.
«Heute spielt Oxford United, und da ist er hin.»
    Nach dem Abendessen hatte es angefangen zu
regnen, und noch immer pladderte es auf die Pfützen in der Einfahrt der Familie
Lewis. «Der ist ja verrückt», sagte Morse.
    «Er ist Ihr Mitarbeiter, Inspector. Kommen Sie
herein.»
    Morse schüttelte den Kopf, ein Regentropfen fiel
ihm von dem unbedeckten Kopf aufs Kinn. «Ich will mal sehen, ob ich ihn finde.»
    «Sie sind ja verrückt», sagte Mrs. Lewis
halblaut.
    Morse fuhr vorsichtig durch den Regen nach
Headington. Die Scheibenwischer machten bogenförmige Ausschnitte auf der
regennassen Windschutzscheibe frei.

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