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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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lag
dick auf dem schmalen Umgang, und irgendwo auf dieser Seite mußte der Abfluß
verstopft sein, denn an der Südostecke stand das Wasser mindestens fünf
Zentimeter hoch. Lewis hielt sich an der Brüstung fest und versuchte, um die
Ostecke zu sehen, aber das Mauerwerk war mürbe und wackelig. Vorsichtig lehnte
er sich an die Schräge des Dachkegels und leuchtete mit der Taschenlampe um die
Ecke. «Ach, du meine Fresse», sagte er leise.
    An der Ostseite lag der Körper eines Mannes — allerdings
erkannte Lewis bereits in diesem Augenblick, daß nur der zerschlissene. Durchweichte
Anzug und die Beschaffenheit des Haares darauf hindeuteten, daß es sich um
einen Mann handelte. Das Gesicht selbst war bis auf den Knochen kahlgefressen.
Lewis nahm all seine Willenskraft zusammen und richtete den Strahl seiner
Taschenlampe auf dieses Nichtgesicht. Zweimal. Das reichte ihm.
     
     
     

16
     
    Am nächsten Mittag saß Morse allein im Bulldog gegenüber von Christ Church und las eine Frühausgabe der Oxford Mail. Die, Schlagzeile und drei Spalten auf der ersten Seite behandelten das Thema
ZULIEFERSTREIK TRIFFT MÄNNER IN COWLEY, aber die Meldung LEICHE AUF KIRCHTURM
GEFUNDEN war immerhin so dramatisch, daß sie noch einen Platz auf der unteren
Hälfte der linken Spalte gefunden hatte. Morse schenkte sich die Lektüre. Er
hatte vor zwei Stunden in Bells Büro gesessen, als ein Reporter der Mail angerufen hatte. Bell hatte sich zurückhaltend und streng sachlich geäußert.
«Nein, wir wissen nicht, wer er ist. — Ja, ich sagte . — Wie? Ja,
ziemlich lange. — Kann ich im Augenblick nicht sagen. Die Obduktion ist heute
nachmittag. — Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, wer ihn gefunden hat. — Ja,
sicher, da könnte eine Verbindung bestehen. — Nein, das ist alles. Wenn Sie
wollen, können Sie morgen noch mal anrufen, vielleicht hab ich dann mehr für
Sie.»
    Was, wie Morse fand, eine reichlich
optimistische Aussage gewesen war. Er blätterte um und las die Schlagzeile im
Sportteil: United total versackt. Aber auch diesen Artikel führte er
sich nicht zu Gemüte. Er war einigermaßen ratlos und brauchte Zeit zum
Nachdenken.
    In den Taschen des Toten hatten sie nichts
gefunden, und der Anthrazitgraue Anzug, die Unterwäsche und der hellblaue
Schlips hatten nur mit den bekannten Markenamen eines britischen Großkonzerns
aufgewartet. Morse selbst hatte es abgelehnt, die «klebrige, stinkende
Schweinerei», wie Bell sich ausgedrückt hatte, zu besichtigen, und hatte die
Kaltblütigkeit des Polizeiarztes bewundert, der behauptete, der Mann - wer
immer er sein mochte - sei lange nicht so abscheulich anzusehen gewesen wie
manche Leichen, die sie in Gravesend aus dem Wasser zu ziehen pflegten.
    Eins war klar: Es würde viel Mühe und Arbeit
kosten, die Leiche zu identifizieren. Wohlgemerkt — Bell würde es viel Mühe und
Arbeit kosten. Und Bell hatte ziemlich ungnädig bemerkt, Morse müsse doch eine
Ahnung haben, wer der Mann sei. Schließlich und endlich habe er, Morse, Lewis
auf den Turm gescheucht. Und wenn er so sicher gewesen war, daß er da eine
Leiche finden würde, mußte er sich doch zumindest denken können, um wen es sich
handelte.
    Aber Morse wußte es wirklich, nicht. Dank einer
seltsamen Verkettung von Umständen hatten sich seine Überlegungen auf den Turm
von St. Frideswide’s konzentriert, und er war nur einem Instinkt gefolgt, der
sogar seine chronische Höhenangst besiegt hatte. Daß er dort oben eine Leiche
finden würde, damit hatte er nicht gerechnet. Oder etwa doch? Als Lewis ihm
über das Dach hinweg die Kunde von seinem grausigen Fund zugerufen hatte, war
Morse sofort der Pennbruder und seine karge Beute vom Kollektenteller
eingefallen. Er hatte sich von Anfang an darüber gewundert, daß es der Polizei
nicht gelungen war, ihn zu fassen. Solche Leute waren fast ausschließlich auf
Wohltätigkeitsorganisationen und Sozialeinrichtungen angewiesen und
amtlicherseits meist bestens bekannt. Konnte es nicht einen sehr einleuchtenden
Grund dafür geben, daß die Ermittlungen nicht zum Ziel geführt hatten?
    Morse holte sich noch ein Bier und wartete, bis
die Trübung sich gesetzt hatte. Als er wieder an seinem Platz war, hatte siel
auch in seinem Kopf einiges gesetzt. Es war wohl doch nicht der Pennbruder, den
sie gefunden hatten. Dagegen sprach sein«Kleidung, besonders der hellblaue
Schlips. Hellblau... Cambridge... Studenten... Lehrer... Morris...
     
     
    Bell war noch im Büro.
    «Wo ist Paul

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