Eine Messe für all die Toten
keinen bestimmten Hinweis auf die Identität des Toten,
der auf dem Turmdach von St. Frideswide’s gefunden worden ist. Chief Inspector
Morse wiederholte heute, der Tote sei wahrscheinlich Ende Dreißig. Er trug
einen anthrazitfarbenen Anzug, weißes Hemd und hellblauen Schlips.
Zweckdienliche Informationen sind an das Polizeipräsidium in St. Aldates,
Oxford 49881, zu richten. Nach den bisherigen Ermittlungen zeichnet sich noch
keine Verbindung zu dem noch ungeklärten Mord an Harry Josephs ab, der im
vergangenen Jahr in derselben Kirche begangen wurde.
Ruth gab es unwillkürlich einen kleinen Ruck.
Zweckdienliche Informationen... Informationen hatte sie genug, mehr als ihr
lieb war. Und die belasteten ihr Gewissen täglich mehr. Demnach hatte also
jetzt Morse den Fall übernommen...
Während sie aufschloß, wappnete sie sich gegen
den erschreckend vorhersehbaren Dialog mit ihrer Mutter.
«Bist du das, Ruthie?»
Wer sonst, dämliche Kuh. «Ja, Mutter.»
«Ist die Zeitung gekommen?»
Weißt du ganz genau. Deinen scharfen alten Ohren
entgeht doch kein Rascheln. «Ja, Mutter.»
«Bring sie mit, Liebes.»
Ruth stellte die schwere Tüte auf den
Küchentisch, hängte ihren Regenmantel über einen Stuhl und ging ins Wohnzimmer.
Sie beugte sich über ihre Mutter und gab ihr einen leichten Kuß a uf
die eisige Wange, legte ihr die Zeitung in den Schoß und wandte sich zur
Gasheizung. «Du stellst sie nie hoch genug, Mutter. Es ist diese Woche viel
kälter geworden, und du mußt dich warmhalten.»
«Wir können schließlich das Geld nicht zum
Fenster rauswerfen, Ruthie.»
Fang bloß nicht wieder damit an. Ruth
mobilisierte alle Reserven an Geduld und töchterlicher Nachsicht. «Bist du mit
dem Buch fertig?»
«Ja, Liebes. Sehr raffiniert geschrieben.» Aber
was sie wirklich interessierte, war die Abendzeitung. «Noch was über den Mord
drin?»
«Ich weiß nicht. War es denn ein Mord?»
«Sei nicht albern, Ruthie.» Gierig verschlang
sie den Artikel.
«Der Mann, der hier war, Ruthie — dem haben sie
den Fall übertragen.»
«Ach ja?»
«Der weiß mehr, als er rausläßt, das sag ich
dir.»
«Glaubst du?»
Die Alte nickte weise. «Du kannst noch das eine
oder andere von deiner alten Mutter lernen.»
«Zum Beispiel?»
«Erinnerst du dich an diesen Penner, der Harry
Josephs ermordet hat?»
«Wer sagt denn, daß er—»
«Jetzt werd nicht gleich böse, Liebes. Die Sache
interessiert dich, das merke ich doch. Du hast dir alle Zeitungsausschnitte
aufgehoben.»
Neugierige alte Kuh. «Ich hab dir schon einmal
gesagt, du sollst nicht in meiner Handtasche herumschnüffeln, Mutter. Eines
Tages —»
«—finde ich Sachen, die ich nicht finden soll.
Wolltest du das sagen?»
Ruth starrte wütend in die blaue Flammenreihe
der Gasheizung und zählte bis zehn. An manchen Tagen wagte sie es neuerdings
kaum mehr, den Mund aufzumachen.
«Also das ist er», sagte ihre Mutter.
«Wie meinst du?»
«Der Mann auf dem Turm, Liebes. Das ist der
Penner.»
«Ein bißchen zu gut angezogen für einen Penner,
findest du nicht, Mutter? Weißes Hemd und—»
«Ich denke, du hast die Zeitung noch nicht
gelesen, Liebes?» sagte Mrs. Rawlinson seidenweich.
Ruth holte tief Atem. «Ich hab nur gedacht, du
willst dich lieber selbst informieren.»
«Du fängst an, mich anzuschwindeln, Ruthie. Das
muß aufhören.»
Ruth sah sich rasch um. Was sollte das heißen?
Ihre Mutter konnte unmöglich wissen... «Du redest Unsinn, Mutter.»
«Du glaubst also nicht, daß es der Penner ist?»
«Ein Penner wäre anders angezogen.»
«Kleidung kann man wechseln.»
«Du liest zu viele Krimis.»
«Man kann doch einen Menschen ermorden und ihn
dann umziehen.»
«Unsinn.» Ruth beobachtete ihre Mutter scharf.
«So einfach geht das nicht. So wie du es sagst, hört es sich an, als ob man
eine Puppe anzieht.»
«Ich weiß, Liebes, es wäre kompliziert. Aber das
Leben steckt voller Komplikationen. Ich sag ja bloß, daß es nicht unmöglich
ist.»
«Ich hab bei Sainsbury’s zwei schöne Steaks
mitgenommen. Am besten mach ich ein paar Pommes frites dazu.»
«Man könnte einen Menschen auch umziehen, ehe
man ihn ermordet.»
«Wie? Sei nicht albern, Mutter. Man
identifiziert eine Leiche nicht nach den Sachen, sondern nach dem Gesicht und
dergleichen.»
«Und wenn nichts mehr von seinem Gesicht übrig
ist, Liebes?» fragte Mrs. Rawlinson unschuldig.
Ruth ging zum Fenster. Sie wollte dieses
Gespräch beenden. Es war widerwärtig und machte ihr
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