Eine Messe für all die Toten
die Zeitung weitergereicht. Die
Flasche wechselte in regelmäßigem Rhythmus hin und her. Jeder trank immer nur
einen Schluck.
«Das ist das Ding, über das sie in der Penne
geredet haben.» Der Ältere deutete mit einem hageren, schmutzigen Finger auf
die erste Seite. Sein Begleiter antwortete nicht, sondern sah starr zu Boden.
«Sie haben da einen Typ auf dem Turm gefunden,
direkt gegenüber von...» Aber dann hatte er den Faden verloren. «Armes
Schwein», sagte er schließlich.
«Wir sind alle arme Schweine», bestätigte der
andere. So offen äußerte er sich
selten und hüllte sich danach auch gleich wieder in Schweigen. Stumm nahm er eine Dose Tabak aus einer der großen
Taschen des Uniformmantels und begann sich eine Zigarette zu rollen.
«Du warst vielleicht damals noch nicht hier,
aber da ist doch einer ermordet worden, wann war das... letztes Jahr irgendwann...
ach Mann, mein Gedächtnis... Jedenfalls ist ein paar Tage später der Pfarrer
vom Kirchturm gehüpft. Komisch, nicht?»
Der Jüngere schien die Geschichte nicht weiter
bemerkenswert zu finden. Er fuhr von links nach rechts mit der Zunge über das weiße
Zigarettenpapier, wiederholte den Vorgang und schob das windschiefe Stäbchen
zwischen die Lippen.
«Wie hieß er doch gleich... Herrgott, wenn man
älter wird, ist das Gedächtnis... Wie hieß er doch gleich...» Er wischte wieder
über den Flaschenhals und reichte die Flasche weiter. «Er hat den Pfarrer
gekannt, war ein Verwandter oder so. Hat manchmal im Pfarrhaus gewohnt.
Erinnerst du dich nicht an ihn?»
«Nee, ich war doch damals gar nicht hier.»
«Er war immer im Gottesdienst.» Er schüttelte
fast ungläubig den Kopf. «Gehst du zur Kirche?»
«Ich? Nee.»
«Und als Kind?»
«Auch nicht.»
Ein gut gekleideter Mann mit Aktentasche und
Schirm kam auf dem Weg vom Bahnhof an ihnen vorbei.
«Haben Sie ’n bißchen Knete für ’ne Tasse Tee,
Mister?» Für den Jüngeren war es ein langer Satz. Er hätte sich die Mühe sparen
können.
«Hab ihn lange nicht mehr gesehen», fuhr der
Ältere fort. «Nicht mehr, seit der Pfarrer sich runtergeschmissen hat. Warst du
da, als die Bullen in die Penne gekommen sind?»
«Nee.»
Der Ältere hustete rasselnd und spuckte einen
Klumpen gelben Auswurf aufs Pflaster. Er fühlte sich müde und krank und dachte
an sein Zuhause, die Hoffnung seiner frühen Jahre.
«Nichts drin in der Zeitung», sagte sein Begleiter.
Durch schmale, bläulich verfärbte Lippen pfiff
der Ältere jetzt mit der Rührseligkeit des Angetrunkenen leise die Melodie von
«Old Folks at Home». Dann sang er: «Wa-a-ay down upon the—» Plötzlich
unterbrach er sich. «Irgendwas mit Swan. Swanpole, ja, so hat er
geheißen. Komischer Name. Swanny haben wir ihn immer genannt. Hast du ihn
gekannt?»
«Nee.» Der Jüngere faltete die Oxford Mail sorgsam zusammen und steckte sie in den Mantel. «Da mußte aber aufpassen, mit
deinem Husten», sagte er mit einer für ihn ungewohnten Redseligkeit.
Der Alte stand auf. «Ich will mal wieder los.
Kommste mit?»
«Nee.» Die Flasche war leer, aber der Mann, der
auf der Bank sitzen blieb, hatte Geld in der Tasche, und in seinen Augen stand
eine boshafte Genugtuung, nur sah man das nicht, weil sie hinter einer dunklen
Sonnenbrille verborgen waren.
Es war kälter geworden, aber daran hatte der
Mann auf der Bank sich mittlerweile gewöhnt. Es war mit die erste Lektion
gewesen, die er gelernt hatte. Nach einiger Zeit vergißt man, wie kalt einem
ist, man akzeptiert es, und dieses Akzeptieren ist wie eine zusätzliche
Isolierung. Abgesehen von den Füßen. Ja, abgesehen von den Füßen. Er stand auf
und ging über den Rasen, um die Inschriften auf dem steinernen Obelisken zu
lesen. Unter den Hornisten und Gemeinen, deren Taten dort verewigt waren, fiel
ihm der eigenartige Familienname eines jungen Soldaten auf, der 1897 von den
Aufständischen umgebracht worden war. Der Mann hieß Death.
20
Am Freitag der gleichen Woche, nachmittags um
halb fünf, schob Ruth Rawlinson ihr Fahrrad in den schmalen Durchgang und
lehnte es in dem vollgestopften Geräteschuppen an den Rasenmäher. Hier mußte
sie bald einmal wieder Ordnung schaffen. Sie nahm eine Plastiktüte vom
Gepäckständer und ging zur Haustür. Die Oxford Mail steckte im
Briefkasten, und sie zog die Zeitung leise heraus.
Die Meldung war heute nur kurz, stand aber immer
noch auf der ersten Seite.
LEICHE NOCH IMMER NICHT IDENTIFIZIERT
Die
Polizei hat immer noch
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