Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
günstiger aus, was man von den Arbeitslosenzahlen leider
nicht sagen konnte — und sie wußte nur zu gut, was Arbeitslosigkeit einem
Menschen antun kann. Die Friedensgespräche im Nahen Osten gingen weiter, aber
Bürgerkriege in Afrika bedrohten das heikle Gleichgewicht der Kräfte zwischen
den Supermächten. Unter den Inlandsnachrichten, ganz unten auf Seite drei, war
eine kurze Meldung über die Entdeckung einer Leiche auf einem Kirchturm in
Oxford, aber so weit kam Brenda nicht. Der junge Arzt setzte sich neben sie,
sehr nah, aber nicht so nah, daß es ihr unangenehm gewesen wäre.
    «Hallo, Schätzchen! Wollen wir das
Kreuzworträtsel zusammen lösen?»
    Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und holte
einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines weißen Kittels.
    «Ich bin nicht besonders gut im
Kreuzworträtseln», sagte Brenda.
    «Dafür bist du gut im Bett.»
    «Wenn Sie —»
    «Eins waagerecht. Sechs Buchstaben. Waffe geht zum Anklagevertreter.> Was kann das sein?»
    «Keine Ahnung.»
    «Moment. Wir wär’s mit Brenda? Paßt doch, oder?
Waffe = Bren. D. A. = District Attorney.»
    Brenda nahm ihm das Blatt aus der Hand. «Das
haben Sie erfunden», lachte sie.
    Er schrieb in Druckbuchstaben BRENDA an den
Zeitungsrand und machte Kringel um die Buchstaben BED. «Bett — ein schönes
Wort», sagte er zufrieden. «Was meinst du, ob ich Chancen habe?»
    «Sie sind verheiratet.»
    «Und du bist durchgebrannt.» Er lächelte
verschmitzt. «Es braucht doch keiner zu wissen. Wir gehen rasch auf dein
Zimmer, und —»
    «Seien Sie nicht albern.»
    «Ich bin nicht albern. Kann ich was dafür, daß
ich scharf werde, sobald ich dich in deiner Schwesterntracht sehe?» Er wurde
ernst, als zwei junge Schwestern hereinkamen. «Sei nicht böse, wenn ich es
immer wieder versuche», sagte er leise. «Willst du mir das versprechen?»
    «Abgemacht», flüsterte Brenda.
    Er wandte sich wieder dem Kreuzworträtsel zu und
las ihr das Stichwort für Eins senkrecht vor, aber Brenda hörte nicht hin. Weil
sie nicht wollte, daß man sie so dicht an dicht mit dem jungen Arzt sah, ging
sie bald unter einem Vorwand auf ihr Zimmer. Dort legte sie sich auf das schmale
Bett und sah lange zur Decke. Die Tür ließ sich abschließen, niemand brauchte
es zu wissen, er hatte schon recht. Wenn er jetzt anklopfen und sie noch einmal
fragen würde, in seiner direkten, unkomplizierten Art, würde sie ihn
hereinbitten. Würde sich hinlegen, sowie sie jetzt lag, würde mit Freuden
dulden, daß er ihre Tracht aufknöpfte...
    Sie war müde, und das Zimmer war überheizt. Der
Heizkörper war so heiß, daß man ihn nicht anfassen konnte. Sie döste ein
bißchen. Als sie aufwachte, hatte sie einen trockenen Mund. Was hatte sie
geweckt? Jetzt hörte sie es wieder- ein leises Klopfen an der Tür. Nach ihrer
Uhr war es Viertel vor sechs. Sie brachte ihr Haar in Ordnung, zog die Tracht
glatt, fuhr rasch mit einem Lippenstift über den Mund und ging mit leichtem
Lampenfieber zu der weiß lackierten Tür.
     
     
    Hinter dieser Tür fand eine Putzfrau sie am
nächsten Morgen.; Irgendwie hatte sie sich von der Mitte des kleinen Zimmers
bis dorthin geschleppt, hatte vergeblich nach der Türklinke getastet. Der
untere Teil des Türblatts war verschmiert von dem Blut, das ihr aus dem Mund
gequollen war. Niemand schien genau zu wissen, woher sie kam, doch der Brief,
den die Polizei im Futter ihrer Handtasche fand, deutete darauf hin, daß eine
sehr enge Beziehung zu einem gewissen Paul bestand oder bestanden hatte, einem
Paul, der als Adresse lediglich Kidlington angegeben und die Adressatin
angewiesen hatte, den Brief unverzüglich zu verbrennen.
     
     
     

22
     
    Am Samstag morgen kam Morse auf Seite zwei des
längst überfälligen Obduktionsberichts über die auf dem Turm gefundene Leiche
zu dem Schluß, daß er ebensogut die Chinesische Volkszeitung hätte lesen
können. Ein gewisses Maß an Fachausdrücken war wohl unerläßlich, aber ein
medizinisch nicht vorgebildeter Zeitgenosse konnte sich in dem Gewirr
physiologischer Details unmöglich zurechtfinden. Immerhin war der erste Absatz
noch allgemeinverständlich ausgedrückt, und Morse reichte den Bericht Lewis
herüber.
    Es handelt sich um die Leiche eines weißen
Erwachsenen, brachyzephalischer Typ. Größe 1,69. Alter schwer zu schätzen,
höchstwahrscheinlich aber zwischen 35 und 40. Haar hellbraun, wahrscheinlich
eine Woche vor dem Tod geschnitten. Augenfarbe nicht mehr feststellbar.

Weitere Kostenlose Bücher