Eine Messe für all die Toten
Angst. Vielleicht war ihre
Mutter doch nicht so senil, wie sie gedacht hatte. Ruth sah deutlich den «Penner»
vor sich, von dem ihre Mutter gesprochen hatte, den Mann, von dem Ruth wußte — obschon
es ihr niemand gesagt hatte, daß er Lionel Lawsons Bruder war. Ein Parasit,
untüchtig und minderwertig, der nach Alkohol, Dreck und Gosse stank. Allerdings
nicht immer. Zweimal hatte sie ihn erstaunlich manierlich erlebt, frisch
rasiert, mit ordentlich geschnittenem Haar, sauberen Fingernägeln und einem
anständigen Anzug auf dem Leib. In diesem Zustand war die Familienähnlichkeit
zwischen den beiden Brüdern geradezu frappant.
«...sie mich fragen, was sie zweifellos nicht
tun werden...» Mrs. Rawlinson hatte unaufhörlich weitergeschwatzt, aber erst
jetzt nahm Ruth ihre Worte wieder auf.
«Was würdest du ihnen sagen?»
«Davon red ich doch die ganze Zeit. Hörst du
nicht zu, Liebes? Fehlt dir was?»
Ja, eine ganze Menge fehlt mir. Ruhe zum
Beispiel. Und wenn du nicht zurücksteckst, geliebte Mama, werde ich dir eines
schönen Tages den Hals umdrehen, dir andere Sachen anziehen, deinen mageren
kleinen Körper auf den Turm tragen und den Vögeln eine zweite Portion
servieren. «Was soll mir fehlen? Ich kümmere mich ums Abendessen.»
Schwarze, faulige Flecken kamen unter der Schale
der ersten Kartoffel zum Vorschein, und sie griff nach der nächsten. Sie hatte
den Beutel gerade erst gekauft. Über dem Slogan «Buy British» prangte ein
großer Union Jack. Rot, weiß und blau... Sie dachte an Paul Morris an der
Orgelbank mit seinem roten Hut, dem weißen Hemd, dem blauen Schlips. An Paul
Morris, der nach gängiger Meinung mit Brenda Josephs durchgebrannt war. Was
natürlich nicht stimmte. Jemand hatte dafür gesorgt, daß ihm das nicht gelungen
war. Jemand, der in diesem Augenblick irgendwo saß und sich an seinem Erfolg
weidete. Das Dumme war, daß nicht mehr viele übrig waren. Eigentlich gab es nur
noch eine, die eventuell... Aber nein, Brenda Josephs konnte doch damit nichts
zu tun haben. Oder doch?
Ruth schüttelte überzeugt den Kopf und schälte
die nächste Kartoffel.
21
Obgleich ihr Mann ohne ihr Wissen einen Kredit
auf das Haus in Wolvercote aufgenommen hatte, war Brenda Josephs jetzt
finanziell ab gesichert, und das Schwesternheim im General Hospital am Rande
von Shrewsbury bot ihr eine sehr angenehme Unterkunft. Auf Pauls ausdrücklichen
Wunsch hatte sie ihm nicht ein einziges Mal geschrieben und nur diesen einen
Brief von ihm bekommen, den sie gewissenhaft unter dem Futter ihrer Handtasche
aufbewahrte und den sie fast auswendig kannte: «...und vor allem verlier nicht
die Geduld, mein Liebling. Es wird ein bißchen, vielleicht sogar eine ganze
Weile dauern, und wir müssen vor allem sehr vorsichtig sein. Bisher brauchen
wir uns keine Sorgen zu machen, und so soll es auch bleiben. Hab nur Geduld,
dann wird alles gut werden. Ich sehne mich danach, dich wiederzusehen und
deinen schönen Körper neben mir zu spüren. Ich liebe dich, Brenda, das weißt
du, und bald werden wir ein neues Leben miteinander beginnen können. Sei
verschwiegen und unternimm nichts, bis du wieder von mir hörst. . Verbrenne
diesen Brief sofort.»
Brenda hatte seit halb acht auf der
Frauenabteilung der Chirurgie Dienst gemacht. Jetzt war es Viertel nach vier.
Den Freitag abend und den ganzen Samstag hatte sie frei. Sie lehnte sich in
einem Sessel im Schwesternzimmer zurück und zündete sich eine Zigarette an.
Seit sie nicht mehr in Oxford war, führte sie — auch ohne Paul —ein
erfüllteres, freizügigeres Leben, als sie je zu hoffen gewagt und als sie es
sich je vorgestellt hatte. Sie hatte neue Freundschaften geschlossen, neue
Interessengebiete entdeckt. Geschmeichelt nahm sie zur Kenntnis, daß sie noch
immer auf Männer wirkte. Schon eine Woche nach ihrer Einstellung (als Referenz
hatte sie den Namen der Oberin angegeben, unter der sie vor ihrer Tätigkeit im
Radcliffe gearbeitet hatte) hatte einer der jungen verheirateten Ärzte sie gefragt:
«Hast du Lust, mit mir ins Bett zu gehen, Brenda?» Einfach so... Sie lächelte,
als sie an den Vorfall zurückdachte. Nicht zum erstenmal ging ihr ein
ketzerischer Gedanke durch den Kopf. Hatte sie Paul jetzt eigentlich noch
nötig? Und da war noch der Sohn, Peter. Ein netter Junge, aber trotzdem... Sie
drückte die Zigarette aus und griff nach dem Guardian. Bis zum
Abendessen waren es noch eineinhalb Stunden. Die Inflationsrate sah
ausnahmsweise einmal
Weitere Kostenlose Bücher