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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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warte.»
    Sie nickte stumm, mit Tränen in den Augen,
während er ihren Kopf an seine Schulter legte und sie an sich zog.
    Sie hatte den Eindruck, daß sie lange Zeit so
saßen. Für ihn war es nur ein unvermeidliches Zwischenspiel. Seine kalten Augen
blickten über Ruths Schulter auf die verhaßte Tapete hinter dem Fernseher. Er
würde sie umbringen müssen, ganz klar. Die Entscheidung war schon längst
gefallen. Aber er konnte sich die Verzögerung nicht erklären. So dumm, wie sie
tat, konnte die Polizei doch unmöglich sein. Noch kein Wort über den Mord in
Shrewsbury. Nichts Definitives über die Leiche auf dem Turm. Kein einziges Wort
über den Jungen...
    «Geht’s deiner Mutter gut?» fragte er fast
zärtlich.
    Ruth gab es einen Ruck. Es wurde Zeit, daß sie
heimging. Zur Mutter.
    «Gehst du immer noch in die Kirche zum Putzen?»
    Sie nickte, schnüffelte ein bißchen und löste
sich von ihm.
    «Montags, mittwochs und freitags?»
    «Jetzt nur noch montags und mittwochs. Mit
zunehmendem Alter werde ich lässiger.»
    «Immer noch vormittags?»
    «Ja. Meist so um zehn. Danach gehe ich
neuerdings auf einen Drink ins Randolph .» Sie lachte verlegen und
schnaubte sich laut in ihr nasses Taschentuch. «Ich könnte jetzt auch einen
gebrauchen, wenn—»
    «Natürlich.» Er holte eine Flasche Teacher’s
Whisky aus dem Sideboard und gab einen großzügigen Schuß in ihr Weinglas.
«Hier, der wird dir guttun. Dir ist jetzt schon besser, nicht?»
    «Ja, das stimmt.» Sie nahm einen Schluck. «Weißt
du noch, als ich dich gefragt habe, ob du etwas von... von dem weißt, was sie
auf dem Kirchturm gefunden haben?»
    «Ja.»
    «Und du hast gesagt, daß du keine Ahnung hast.»
    «Hab ich auch nicht. Aber die Polizei wird es
schon herausbekommen.»
    «Es heißt nur, daß die Ermittlungen laufen.»
    «Haben sie dich etwa wieder belästigt?»
    Sie atmete tief und stand auf. «Nein. Allerdings
könnte ich ihnen darüber auch nichts sagen.»
    Einen Augenblick dachte sie an Morse mit seinen
durchdringenden Augen. Traurigen Augen, als seien sie ständig auf der Suche
nach etwas, was sie nicht finden konnten. Ein gescheiter Mann, und auch ein
netter Mann. Warum war ihr nicht vor Jahren jemand wie Morse über den Weg
gelaufen?
    «Was denkst du?» Seine Stimme klang wieder fast
schroff.
    «Daß du schrecklich nett sein kannst, wenn du
willst.»
    Sie hatte es jetzt eilig. Ihr war, als winke die
Freiheit hinter der geschlossenen Tür. Aber da war er schon bei ihr, seine
Hände gingen wieder zärtlich über ihren Körper. Und bald hatte er sie mit sich
zu Boden gezogen, wo er — wenige Zentimeter vor der Tür — erneut in sie
eindrang. Er keuchte wie ein Tier, während sie mit stumpfem Blick auf einen
Haarriß an der Decke starrte.
     
     
     

26
     
    «Es heißt ja, daß man diese industriell
hergestellte Wurst als Grundlage für Fibroblasten hernehmen kann», sagte Morse
und rieb sich hocherfreut die Hände, als er den mit Würstchen, Eiern und Pommes
frites beladenen Teller sah, den Mrs. Lewis ihm hingestellt hatte. Es war
Sonntag abend um halb neun.
    «Was sind Fibroblasten?»
    «Es hat etwas damit zu tun, daß man ein Stück
Gewebe abnimmt und am Leben erhält. Ziemlich gruselige Geschichte eigentlich.
Wahrscheinlich könnte man auch vom Menschen so ein Stück abnehmen und auf
unbestimmte Zeit am Leben erhalten. Unsterblichkeit des Körpers sozusagen.» Er
stippte eine goldbraune Fritte in das blaß gelbe Dotter.
    «Macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich den
Fernseher anstelle?» Mrs. Lewis setzte sich mit einer Tasse Tee zu ihnen und
schaltete das Gerät ein. «Mir ist es egal, was sie mit mir machen, wenn ich tot
bin, Inspector. Hauptsache, ich bin wirklich hinüber.»
    Das waren alte Ängste. Reiche Viktorianer hatten
in ihren Särgen komplizierte Apparaturen installieren lassen, damit eine
entgegen den Erwartungen der Ärzte wieder zum Leben erwachte Leiche die Kunde
vom wiederkehrenden Bewußtsein aus dem Untergrund unverzüglich nach oben melden
konnte. Solchen Ängsten entsprangen auch Poes grausig-faszinierende Geschichten
über diese Dinge. Und Morse unterdrückte die Bemerkung, daß Leute, deren größte
Sorge es war, lebendig begraben zu werden, sich gar nicht aufzuregen brauchten.
Die bittere medizinische Wahrheit war, daß dies ohnehin mit ihnen geschehen
würde.
    «Was bringen sie denn?» fragte Morse mit vollem
Munde. Aber Mrs. Lewis hörte ihn nicht. Schon hatte der Fernseher sie — einem
modernen Zauberer gleich

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